Wie halten wir’s mit den Taliban?

Wie Russland, China und der Westen sich gegenüber den Taliban verhalten könnten

August 2021 in Mazar-i-Sharif: Was können wir von den Taliban erwarten?

Was ist von der Politik der am 10. September gebildeten vorläufigen Regierung der Taliban in Afghanistan zu erwarten? Wird sie eine zweite Auflage dessen bieten, was die Welt in den Jahren 1996 bis 2001 von den Taliban zu sehen bekam? Oder hat die neue Führergeneration dieser islamischen Bewegung eine Lehre gezogen aus dem, was ihre Vorgänger zwanzig Jahre zuvor veranstaltet haben?

Das ist im Moment die wohl wichtigste Frage für die politischen Eliten der führenden Länder der Welt: Welche Kriterien soll man anlegen? Und wo soll in diesem Rätsel das Komma gesetzt werden? „Ablehnen unmöglich anerkennen“.

Es scheint jedoch, dass die Politiker der meisten Länder der Welt beim Umgang mit den anstehenden Problemen dazu neigen, sich von einer einfachen Lebensweisheit leiten zu lassen: „Man soll die neuen Machthaber in Afghanistan an ihren Handlungen messen, nicht an ihren Worten.“

Das heißt, man sollte nicht allzuviel auf die Versprechen und beschwichtigenden Reden der Islamisten in Kabul geben. Besser ist es, aufmerksam ihre praktischen Schritte zu beobachten.

Pragmatischer Umgang? Menschenrechte?

Das Problem dabei ist, dass diese Schritte widersprüchlich sind. Man nehme nur den Verlauf der Regierungsbildung: Auf der einen Seite atmeten die Politiker in den USA und der EU erleichtert auf, nur weil die Taliban beschlossen, sie nicht dadurch zu brüskieren, dass sie die offizielle Amtseinsetzung ihrer Regierung auf das für die westliche Zivilisation so tragische Datum ansetzten, den 11. September (obwohl es solche Pläne durchaus gab). Auf der anderen Seite gehört dieser Regierung nicht eine einzige Frau an und praktisch niemand aus einer der nichtpaschtunischen Volksgruppen.

Von Inklusion also keine Rede. Dafür gibt es wiederum Personen, nach denen wegen Beteiligung an terroristischen Aktionen gefahndet wird.

Mag man Ersteres mit ein wenig gutem Willen als eine symbolische (wenn auch vielleicht äußerliche und vorübergehende) Geste der Distanzierung der Islamisten von der Tragödie von 9/11 ansehen. Letzteres zeugt dagegen anschaulich von der unbeirrbaren Absicht, ihr Herrschaftssystem nach den mittelalterlichen Normen der Scharia auszurichten, die weit entfernt sind von einem modernen Verständnis der Menschenrechte.

Dabei hat die Weltgemeinschaft eigentlich zwei grundlegende Kriterien für eine mögliche Anerkennung der Taliban-Regierung aufgestellt: den Verzicht auf jede Zusammenarbeit mit terroristischen Organisationen und die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts, das Land zu verlassen. Das wurde in der Resolution Nr. 2593 des UN-Sicherheitsrats vom 30. August 2021 präzise niedergelegt.

Die anfänglichen Reaktionen der in das afghanische Chaos in diesem August verstrickten Führungsmächte kann als notgedrungen bezeichnet werden, als „pragmatischen Umgang“ mit den Taliban, als eine Art „Halbanerkennung“ ihrer Herrschaft im Land. Was nur verständlich ist, wenn man bedenkt, mit welcher Geschwindigkeit das von der NATO gestützte Regime in Kabul und seine Armee gefallen sind. Zudem hatte man schon damals (vor dem 31. August, dem Datum des Abschlusses der Evakuierungsmaßnahmen der USA und ihrer Verbündeten) auf hoher politischer Ebene in fast allen westlichen Hauptstädten und in Moskau begonnen, über die Möglichkeit einer offiziellen Anerkennung der neuen Taliban-Regierung zu sprechen, unter den oben genannten Bedingungen.

Mitte September wurde die Haltung der Islamisten zu den genannten Bedingungen für ihre Aufnahme in die „Völkerfamilie“ in hinreichendem Maße deutlich. Die Regierung besteht ausschließlich aus Paschtunen, eine Repräsentanz anderer ethnischer Gruppen wird praktisch vollständig ignoriert. Massenhinrichtungen politischer Gegner gibt es gegenwärtig noch nicht, aber punktuell kommt es zu Exekutionen.

Die Menschenrechte, so die Taliban-Mullahs, werden ausschließlich dann umgesetzt, wenn sie in Geist und Buchstaben mit der Scharia übereinstimmen. Dies bedeutet unter anderem ein Verbot gesellschaftlicher oder sportlicher Aktivitäten für die Frauen sowie eine erhebliche Einschränkung ihrer Bildungsmöglichkeiten.

Einer der ersten Beschlüsse der neuen Regierung war die Abschaffung des Frauenministeriums. Bemerkenswerterweise sind, trotz Drohungen und Repressionen, gerade die Frauen in den afghanischen Städten auf die Straßen gegangen, um gegen die neuen Herrscher zu protestieren. „Ihre (der Taliban) Werte sind nicht unsere Werte“, sagte die Aktivistin Basira Taheri gegenüber dem Sender DW-TV. „Die afghanische Gesellschaft hat sich in den letzten 20 Jahren verändert. Die afghanische Gesellschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert. Wir werden nicht zulassen, dass die Taliban uns unsere Rechte wegnehmen.“

Verbindungen zu Terrororganisationen

Die Hoffnungen der Weltgemeinschaft, die neue Generation der Taliban werde ihre Verbindungen zu terroristischen Organisationen abbrechen, scheinen immer weniger gerechtfertigt. Es ist inzwischen offensichtlich, dass den Führern den Taliban, die in früheren Zeiten mit anderen islamischen Organisationen rivalisierten, heute vor allem daran gelegen ist, ihre Dominanz innerhalb der Internationale des Terrorismus zu erhalten, zumindest auf dem Gebiet Afghanistans. Genauer gesagt, sie versuchen, die anderen radikalen Islamisten dazu zu bewegen, sich ihrer Regierung zu unterwerfen.

Ende der 90er-Jahre war die Situation ganz ähnlich, als Mullah Omar der Al-Qaida mit ihrem Anführer Osama bin Laden Zuflucht gewährte. Der gerade ernannte Innenminister Siradschuddin Haqqani zum Beispiel steht in den USA auf der Liste gesuchter Terroristen. Für Informationen, die zu seiner Ergreifung führen, ist eine Belohnung in Höhe von 10 Millionen Dollar ausgesetzt.

Dabei bestreiten weder er selbst noch irgend jemand aus der Führung der Taliban seine Beziehung zu Al-Qaida. Eine ganze Reihe von Agenturen berichtete, dass Amin al-Haq, einer der Führer von Al-Qaida, noch am 30. August, also exakt einen Tag vor Abschluss der Evakuierungsmaßnahmen, sich in Kabul aufgehalten habe.

Viele Experten halten es für wahrscheinlich, dass es sehr bald zu einer Aussöhnung zwischen den Taliban und dem „Islamischen Staat“ kommen werde. So schreibt die saudi-arabische Tageszeitung Al Sharq: „Trotz aller öffentlichen Erklärungen der Taliban existieren bis heute keine Beweise dafür, dass sie sich mit dem IS und allen anderen uneins wären.“ Die Zeitung weist darauf hin, dass die Taliban „Hunderte, wenn nicht Tausende von Terroristen aus afghanischen Gefängnissen freigelassen haben“.

Der Westen gegen Russland und China?

Unter diesen Umständen liegt die Vermutung nahe, dass das Problem Afghanistan die Weltgemeinschaft zwar in den letzten zwanzig Jahren zu gemeinsamem Handeln geeint und zu einem breiten Konsens der führenden Weltmächte geführt hat, heute jedoch möglicherweise zu einem Faktor geworden ist, der die Spaltung zwischen den Ländern des „kollektiven Westens“ auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite weiter vertiefen könnte.

Dies kann man heute bereits daraus ersehen, wie die Taliban-Regierung in der Öffentlichkeit eingeschätzt wird. Die Außenminister der USA, Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands haben, nicht alle in gleichermaßen scharfem Ton, aber hinreichend deutlich, erklärt, dass eine Anerkennung der Taliban-Regierung nicht in Frage komme, womit sie die Bedeutung ethischer Werte für ihre Politik sowohl generell wie in Bezug auf Afghanistan demonstrierten.

Die Linie Moskaus und Pekings ist der Inbegriff des Pragmatismus. Es fällt auf, dass China die Verbindung zu den Taliban vorzugsweise über seinen wichtigsten Verbündeten in der Region hält, nämlich Pakistan. Dieses Land wiederum gilt als der größte Sponsor dieser islamischen Bewegung.

Von den führenden Weltmächten steht bisher nur Russland in direktem Kontakt zur Führung der Taliban und ihrer Regierung. Russlands Außenminister Sergei Lawrow verteidigt das Konzept des Dialogs mit den Taliban: „Alle reden darüber, dass man jetzt mit den Taliban Beziehungen unterhalten müsse, einschließlich derer, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als ihre Botschaften außer Landes zu bringen. Wir haben das nicht getan. Mit den Taliban zu reden ist unumgänglich. Das haben doch praktisch alle längst begriffen“, erklärte der Minister.

Sein französischer Kollege Jean-Yves Le Drian ließ allerdings das Gegenteil verlauten: Kürzlich erst beschuldigte er die Taliban öffentlich der Lüge und versicherte, Frankreich werde keinerlei Kontakt mit ihrer Regierung aufnehmen.

Russland redet schon lange mit Islamisten

Moskaus Haltung in der gegenwärtigen Situation dürfte niemanden verwundern, ist doch die aktive Kommunikation mit radikalislamistischen Gruppen, die in verschiedenen Ländern nach den Hebeln der Macht greifen, schon seit langem eine wichtige Komponente der russischen Nahostpolitik. Besonders deutlich sah man das bei der palästinensischen Hamas und der libanesischen Hisbollah, aber eben auch bei den Taliban, alles Organisationen, die in vielen Ländern der Welt als terroristisch eingeschätzt werden.

Moskau sendet jetzt Signale nach Kabul, die die Bereitschaft der russischen Seite anzeigen, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten. Dabei stellt sich die Frage: Kann man mit einem Partner zusammenarbeiten, dessen Legitimität man nicht anerkennt? Wohl kaum. Die Frage ist nur, in welcher Form und in welchem Kontext die Anerkennung erfolgen wird.

Afghanistan ist ein Faktor, der für wachsende Spannungen auch in den benachbarten Regionen sorgt, in Südasien (vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Pakistan und Indien) und im Nahen Osten, wo sich parallel zum traditionellen Konflikt zwischen sunnitischem und schiitischem Islam die Konfrontation zwischen dem von der Türkei und Katar unterstützen politischen Islam und den arabischen Monarchien am Golf nicht weniger brisant entwickelt.

Der Sieg des politischen Islam in Kabul wird ohne Zweifel die Position Ankaras und Dohas stärken. Von daher die spürbare Verunsicherung in Riad und Abu Dhabi, die, wie wir uns erinnern, die erste Taliban-Regierung in Kabul zwischen 1996 und 2001 politisch und finanziell unterstützten.

Aber damals war die Situation in der Region eine ganz andere: Die herrschenden Familien in den arabischen Monarchien glaubten, die Taliban wären in der Lage, Al-Qaida im Zaum zu halten und zu verhindern, dass sie außerhalb Afghanistans aktiv wird, während sie sich selbst von ihrem Erzfeind, dem schiitischen Islam fernhielten. Heute steht das Taliban-Regime unter der Kuratel anderer regionaler Rivalen der arabischen Monarchien, nämlich der Türkei und Katars.

Eine vielschichtige Situation zeichnet sich in der Region ab, bei der viel von denen abhängt, die sich für die wichtigsten Strippenzieher hinter den Taliban halten – den pakistanischen Geheimdiensten. Die aber haben ihre eigene Strategie und Taktik.

Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

 

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