Wer künftig die Welt beherrscht
Afghanistan ist der Katalysator für den Wandel zu einer Weltordnung der Polyzentralität
Vor dreißig Jahren hörte der bedeutendste geopolitische Rivale der USA in der Nachkriegszeit auf zu existieren: die UdSSR. Das war der Beginn einer Neukonfiguration der Weltordnung.
Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte haben sich immer neue Machtzentren mit unterschiedlichen Potenzialen und Interessen herausgebildet, die miteinander kooperieren, konkurrieren oder sich bekämpfen. Außer den USA erheben jetzt die Europäische Union (hier vor allem Frankreich und Deutschland) und das nicht mehr zur EU gehörende Großbritannien Anspruch auf eine führende Stellung in der Weltpolitik. Neben China und Russland sind sie es, die in vielerlei Hinsicht die politischen Prozesse der Welt bestimmen, darunter auch den Übergang von der relativen Monopolarität des „kollektiven Westens“ zur Polyzentralität.
Die jüngsten Ereignisse in Afghanistan waren dabei eine Art Katalysator, der diesen Übergang beschleunigte. Die Spezifik der aktuellen Etappe besteht darin, dass alle genannten Staaten sich in einem Zustand der Transformation befinden.
USA: Machtzentrum mit schwindender Macht
Die USA sind außenpolitisch nach dem Scheitern ihres zwanzig Jahre dauernden Engagements in Afghanistan bereit, ihre Rolle bei der Lösung internationaler Konflikte und die Art ihres Machteinflusses auf einzelne Staaten, in denen sie eine Gefahr für ihre Sicherheit erkennen, zu überdenken. Sie haben ihr außenpolitisches Engagement sichtlich reduziert und konzentrieren sich stärker auf die Innenpolitik.
Neben den Problemen des Klimawandels und der Pandemie haben die USA auch mit einer Krise zu kämpfen, die mit Rassen-, Gender- und sozialen Gleichstellungsfragen zu tun hat. Das mindert die Attraktivität ihres wirtschaftspolitischen Raums. Aber mittelfristig gesehen werden die USA aufgrund ihres ökonomischen und militärischen Potenzials die Rolle als eines der führenden Machtzentren der Welt behalten, wenngleich mit schleichend abnehmender Bedeutung.
EU: Stärkung der Autonomie
Die EU befindet sich am Anfang einer extrem schwierigen energiepolitischen und digitalen Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft, die in vielerlei Hinsicht nicht auf marktwirtschaftlichen, sondern dirigistischen Mechanismen basiert und kolossale Ausgaben fordert. Gleichzeitig setzt sie auf der einen Seite auf eine Stärkung ihrer militärpolitischen und wirtschaftlichen Autonomie, was auch eine Minderung ihrer Abhängigkeit von den USA bedeutet, auf der anderen Seite auf eine größere Verantwortung in der Weltpolitik.
Die Ereignisse in Afghanistan bestätigen aus der Sicht Brüssels die Richtigkeit dieses Übergangs. Der Brexit und gewisse Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU haben den europäischen politischen und wirtschaftlichen Standort geschwächt. Auch Großbritannien, das versucht, die Kosten seines EU-Austritts durch eine Annäherung an die USA zu kompensieren, konnte seine Position als Global Player bisher nicht festigen.
Motor der Reformation der Europäischen Union ist somit immer noch das deutsch-französische Tandem. Nachdem die beiden Staaten eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten überwinden konnten, haben sie Ende Mai 2021 eine gemeinsame politische Roadmap für die nächsten Jahre vereinbart.
Sie umzusetzen könnte sich allerdings wegen der ungewissen zukünftigen Regierungskonstellationen in Berlin und in Paris als schwierig erweisen. Sowohl Frankreich als auch Deutschland müssen soziale und marktwirtschaftliche Reformen umsetzen, was nur durchsetzungsstarke Politiker leisten können, die keine Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen haben.
Das außenpolitische Handeln der USA, der EU und Großbritanniens basiert auf dem Grundsatz ethischer Werte (internationales Recht, demokratische Normen und Menschenrechte). Damit positionieren sie sich als Counterpart zu den beiden anderen führenden Weltmächten, China und Russland.
China: Expansion auf allen Kontinenten
Die führende Rolle Chinas stützt sich in erster Linie auf sein in den letzten Jahrzehnten aufgebautes ökonomisches Potenzial, das die Führung der kommunistischen Partei im Rahmen ihrer Fünfjahrespläne reformiert und vergrößert. Peking verfolgt eine kontinuierliche außenwirtschaftliche Expansion auf allen Kontinenten, wozu auch die Strategie des „One Belt, One Road“ gehört. Chinesische Betriebe sind fest in die globale Wertschöpfungskette amerikanischer und europäischer Unternehmen eingebunden. Da sie aber in erheblichem Maß staatlich subventioniert sind, sind sie auch deren stärkste Konkurrenten, die sie von ihren traditionellen Märkten verdrängen.
Washington setzt nicht nur auf eine wertorientierte, sondern auch auf eine knallharte wirtschaftliche Konfrontation mit China. Brüssel dagegen bemüht sich um ein flexibleres Modell der Zusammenarbeit nach dem Motto „China einbremsen, aber nicht provozieren“. Auf dieser Grundlage soll innerhalb eines neuen Modells der Polyzentralität ein gesondertes bipolares Subsystem entstehen: die Konfrontation der USA und der EU mit dem Reich der Mitte.
Russland: Problemlöser in der Weltpolitik
Wichtigster Garant für Russland (als eigentlichem Erbe der UdSSR), um wieder eine führende Position in der Welt zu erlangen, bleibt sein nukleares und militärtechnisches Potenzial, das ein Gleichgewicht mit den USA gewährleistet. Russlands Anstrengungen, sein Gewicht in der Weltwirtschaft zu vergrößern, sind dagegen lediglich Wunschdenken. Eine Ausnahme bildet sein großes Potenzial an Bodenschätzen, vor allem an Energieträgern, zudem einzigartige geografische Faktoren.
Dennoch ist die Russische Föderation in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Akteure in der Weltpolitik geworden, der sich aktiv an der Lösung globaler Konflikte beteiligt. Die Lage in Afghanistan bestätigt diese These. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass Moskau und Peking in den unterschiedlichsten Bereichen kooperieren, sich dabei aber nicht wesentlich näherkommen. Beide Seiten achten vielmehr sorgfältig darauf, dass aus dieser Zusammenarbeit nicht eine Abhängigkeit wird.
Das Bedeutung des nuklearen und militärpolitischen Potenzials für die Aufrechterhaltung einer führenden Rolle in der Weltpolitik wird künftig sinken. Wichtiger werden dagegen sozialökonomische Faktoren. An erste Stelle tritt die Konkurrenz der wirtschaftspolitischen Standorte um die wichtigsten Produktionsfaktoren – Kapital, Arbeitskraft und Dienstleistungen –, die für Wohlstand der Bürger sorgen und die Attraktivität der Machtzentren bestimmen (einschließlich der Möglichkeit, eine aktive Entwicklungs- und Sozialpolitik zu leisten). Eben diese Konkurrenz ist die Basis für die Herausbildung einer neuen polyzentrischen Weltordnung, in der die Zahl der Machtzentren beständig ansteigt.
Die Coronakrise hat die starken und schwachen Seiten der politischen und wirtschaftlichen Modelle von USA, EU, Großbritannien, China und Russland freigelegt. Aufgabe der Eliten wird in den kommenden Jahren sein, sie zu erneuern. Ob ihnen das effektiv gelingt, ist noch eine offene Frage. Aber die Staaten, die diese Aufgabe schneller und effektiver leisten, werden ihre führende Rolle in der Welt unterstreichen.
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann. Dieser Beitrag erscheint auch in der Oktoberausgabe des Rotary Magazins. Wir danken der Redaktion, den Beitrag schon jetzt auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.