Weil die Zeiten sich ändern…

…muss Politik sich ändern? Das wäre nur Defensive, Reaktion statt Probleme vorausschauend zu lösen

„Zeitenwende“ ist der neue Schlüsselbegriff in der deutschen Außenpolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz benutzte diesen Ausdruck in der Regierungserklärung zum Ukrainekrieg mehrmals. Und Annalena Baerbock sagte: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“

Es ist die Grundsteinlegung für die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die programmatische Rede ist die sichtbare Beurteilung der Kreml-Politik durch das Prisma der Theorie des offensiven Neorealismus. Nach dieser Theorie der internationalen Politik ist staatliches Handeln bestimmt durch hegemoniales Machtstreben, Dominanz von Sicherheit und Kooperationsmisstrauen. Putins Staatsmacht ist seit dem 24. Februar auch rhetorisch von Autokratie zu Diktatur heruntergestuft.

Bislang schienen die vorherigen Bundesregierungen die russische Politik eher mit den Maßstäben der Konstruktivismus-Theorie zu bewerten: staatliches Streben als Resultat sozialer konstruierter Strukturen/Institutionen mit Vorrangigkeit von geteilten Ideen, Normen, Identitäten und weniger von materieller Stärke und Einflüssen. Die neue politische Analysevorgabe und die neue politische Realität wird ganz sicher in der politikwissenschaftlichen Friedens- und Konfliktforschung zu intensiven Reflexionsdebatten führen sowie die Osteuropawissenschaft aus ihrem medialen Nischendasein herausholen.

Scholz‘ Grundsatzrede ist ein sicherheitspolitischer Kulturwandel, vergleichbar  mit Kanzler Helmut Schmidts rüstungskontrollpolitischem Nato-Doppelbeschluss von 1979, der Kombination von Verhandlungsdiplomatie und Bereitschaft zur Stationierung atomarer Mittelstreckensysteme.

Der Westen schreckt sich selbst ab

Mantrahaft wurde in Deutschland und in der EU jahrelang politisch und medial das Axiom betont, Konflikte seien militärisch nicht lösbar. Die russische Regierung demonstrierte mit ihren Interventionen in Tschetschenien, Syrien und dem Donbas jedoch eine ganz andere Einschätzung.

Die Risikoscheu des Westens basierte sicherlich auch auf den eigenen mangelnden militärischen Fähigkeiten und offenbarte sein Dilemma: Aus Furcht vor der Eskalationsschraube ist er nur mit diplomatischen Mitteln zur Konflikteindämmung in der Lage. Moskau verfügt hingegen über die Eskalationsdominanz, weil der Westen sich selbst abschreckt.

Die Verweigerung jeglicher militärischer Unterstützung der Ukraine war nach der Krim-Annexion und den Kämpfen in der Ostukraine bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 eine viel und kontrovers diskutierte Frage.  Bundeskanzlerin Merkel positionierte sich unmissverständlich: „Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der eine verbesserte Ausrüstung der ukrainischen Armee dazu führt, dass Präsident Putin so beeindruckt ist, dass er glaubt, militärisch zu verlieren. Ich muss das so hart sagen.“

Weil die Zeiten sich ändern

Sieben Jahre später beurteilt die deutsche Politik den gleichen Sachverhalt nun entgegengesetzt. Scholz hatte sich noch Anfang Februar klar gegen deutsche Waffenlieferungen ausgesprochen, weil seine Bundesregierung grundsätzlich keine Waffen in Krisengebiete liefern werde. Die Große Koalition exportierte hingegen seit einigen Jahren Rüstungsgüter im Wert von vielen Milliarden Euro an die Kriegsallianz im Jemen, die dort auch eingesetzt werden. Die jetzige Kehrtwende um 180 Grad die Ukraine betreffend ist ein zentrales Element dieser Zeitenwende.

Zur Rechtfertigung der Umkehr des bis dato geltenden Postulats deutsch-russischer Beziehungen – die ökonomische Interdependenz ist ein Sicherheits- und Friedensfaktor oder in der Verteidigung: Deutschland ist eine bewaffnete Zivilmacht – lautet jetzt die politische Parole: Weil die Zeiten sich ändern, muss sich auch die Politik ändern. Die Politik wird damit in eine defensive, reaktive Rolle gedrängt.

Aufgabe von Politik ist jedoch, Probleme zu antizipieren und zu gestalten. Gefragt ist also nicht allein die Kunst, das politisch Mögliche machbar zu machen, sondern zugleich das Machbare politisch möglich zu machen.

Kontrafaktisches Szenario

Kriegszeiten sind immer auch Zeiten des gesellschaftlichen Streits um etwaige Versäumnisse und Fehlbeurteilungen. Es geht an dieser Stelle nicht um ein „hinterher hat man es vorher schon gewusst“. Vielmehr soll die deutsche und europäische Einstellung in der Periode der ukrainischen militärischen Bedrohung kritisch beleuchtet und kontrafaktisch ein Szenario argumentiert werden.

Es ist Spekulation, ob der Überschlag zur militärischen Invasion damit hätte verhindert werden können. Aber die vorgestellte Denkfigur ist es wert, in den Diskurs der Gefahrenprävention und Abwehr für potenzielle nächste russische Aggressionen gestellt zu werden.

Während des mehrmonatigen Aufbaus einer militärischen Drohkulisse hätte die zentrale Kategorie Abschreckung zur politischen Beeinflussung von Präsident Putins Risiko-Kosten-Nutzen-Abwägung inhaltlich viel stärker aufgefüllt werden müssen. Es gibt zwei Abschreckungs-Denkschulen:

Die eine statuiert für den Gegner ein unkalkulierbares Risiko der Schadenswirkung. Die andere fixiert für den Gegner ein kalkulierbares, aber schwer ertragbares Risiko. Von Bedeutung ist die Kombination.

Bei dem kontrafaktischen Szenario prophezeit die deutsche/europäische Diplomatie Russland frühzeitig ein abschreckendes ökonomisches unkalkulierbares Sanktionsregime mit heutigem Ausmaß. Zugleich halten Mitglieder der Nato in Eigenregie (jedoch nicht das konzertierte Bündnis) eine signifikante Größenordnung von leicht bedienbarem Abstands-Militärgerät zur Luft- und Bodenzielbekämpfung vor.

Muster in einem kleineren Maßstab war die Ausrüstung der Mudschaheddin im sowjetischen Afghanistan-Krieg durch die USA. Der russischen Politik wird kommuniziert, dass diese Waffen in der Stunde eines Angriffs der Ukraine geliefert werden. Das wäre Abschreckung als kalkulierbares, militärisch sehr schmerzhaft ertragbares Risiko.

Alles nach Plan?

In den medialen Diskussionsforen nistet sich nun eine von ehemaligen hohen Militärs gestützte Beurteilung ein, Präsident Putin habe sich in seiner Invasions-Berechnung einer schnellen militärischen Unterwerfung verkalkuliert. Die Ukraine könne den aufgezwungenen Krieg noch gewinnen. Der russische Staatschef hingegen behauptet, wie jüngst im Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Erdoğan, der Militäreinsatz verlaufe nach Plan.

Doch was ist dieser Plan? Keiner im Westen kennt ihn.

Ein wichtiger Prognose-Parameter liefert Putin selber. Er verkündet seine Ziele. Stichworte: „Entnazifizierung und Entmilitarisierung“ der Ukraine sowie Kriegsende. Politisch übersetzt steht damit ein Jalta 2.0 als Elefant im Raum.

Auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 beschlossen Stalin, Roosevelt und Churchill die Entmilitarisierung und Entnazifizierung Deutschlands als wichtigstes Ziel. Mit dem Jalta-Narrativ versucht Putin, die emotionale Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in der russischen Bevölkerung zu wecken. Auf der militärischen Ebene beschreibt es das Kriegsziel: Wie damals Nazi-Deutschland, soll heute „Nazi“-Ukraine niedergerungen werden. Das teilte Putin auch Erdoğan mit, der „Einsatz“ werde erst dann beendet, wenn die Ukraine den Kampf einstelle und die Forderungen Russlands erfüllt.

Man sollte diese Aussage als sein Ziel ernstnehmen. Das gilt auch für seine Drohung, die Sanktionen kämen einer Kriegserklärung gleich müssen im Licht zweier jüngerer Erlasse gewichtet werden.  Es sind die „Grundlagen der staatlichen Politik Russlands auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“ vom Juni 2020 und die „Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation“ vom Juli 2021, Kapitel: Wirtschaftliche Sicherheit.

Im Zentrum stehen „Souveränität“ und „Sicherheit“. Die große Unbekannte ist die Frage: Wann wertet Putin diese zentralen Kategorien durch die Sanktionen und Waffenlieferungen als „Aggression“, die aus seiner Sicht militärisch abgeschreckt werden müssen?

Der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen rückt in den Bereich des Möglichen – als ein mit niedriger Sprengkraft gezielter singulärer Gefechtseinsatz gegen ein Infrastruktursystem oder als im Schwarzen Meer gezündete Warnung an den Westen. Was daraus folgen würde, sind die berühmten Schwarzen Schwäne. Man hat sie noch nie gesehen. Die in den Westen getriebenen Millionen von Ukrainern sind bereits heute eine gezielt eingesetzte ‚menschliche Atombombe“ (Putin), die Europa destabilisieren soll.

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