Waffenlieferungen

Ukraine: Moralische Erpressung

Deutsche, die keine Panzer in die Ukraine schicken wollen, sind noch lange keine Nazis

von Marc Felix Serrao
Krieg beenden, mit Waffen oder ohne?
Ja, aber wie geht das? Endet der Krieg mit Waffen? Endet er ohne Waffen? Und wenn ja: Wie sieht der Frieden dann aus?

Was haben der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky, der deutsche Verleger Mathias Döpfner und der ehemalige polnische Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, gemeinsam? Sie alle begründen ihre Forderungen nach mehr deutscher Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland mit den Verbrechen der Nazis.

Das deutsche „Nie wieder“ sei nichts wert, rief Selensky den deutschen Bundestagsabgeordneten vor einem Monat per Videobotschaft zu. Döpfner, der schon Anfang März in der Bild-Zeitung gefordert hatte, dass die Bundesrepublik zusammen mit anderen westlichen Ländern nicht nur Waffen, sondern auch Truppen in die Ukraine schickt, zeigte sich tief beeindruckt. An diesem Tag, erklärte der Verleger, nun in der Welt, habe er begonnen zu fürchten, „dass wir Deutschen die zweite Chance, die uns die Geschichte nach dem Nationalsozialismus gewährte, verspielen“.

So sieht es auch Tusk. Die Deutschen müssten fest an der Seite der Ukraine stehen, twitterte er – „wenn wir glauben sollen, dass sie aus ihrer Geschichte gelernt haben“.

Ein perfider Vorwurf

So eindringlich diese Sätze daherkommen, so perfide sind sie. Denn was sagt der Vorwurf, nichts aus den Schrecken der Nazi-Zeit gelernt zu haben oder die vermeintlich zweite Chance der Geschichte ungenutzt zu lassen, eigentlich aus? Er macht aus denen, die es anders sehen, Wegbereiter des Totalitarismus.

Schaut, sagt er: Die laufen heute mit, und sie wären damals wohl auch mitgelaufen. Das ist kein Argument, das ist moralische Erpressung.

Wenn „die Deutschen“ eine historische Verantwortung tragen, dann gilt sie gegenüber den Juden. (Eine historische Schuld, gar eine, die von einer Generation auf die nächste überginge, gibt es nicht.) Es waren die Juden, die Hitler auslöschen wollte, und die meisten Deutschen haben diesen Wahnsinn damals entweder unterstützt oder hinterher behauptet, nichts gewusst zu haben. Der Holocaust verpflichtet ihre Nachfahren, jüdisches Leben zu schützen, nicht nur, aber vor allem im eigenen Land. Und in dieser Hinsicht gäbe es wahrlich noch viel zu tun.

Die Verbrechen der Deutschen von damals verpflichten die Deutschen von heute nicht dazu, Menschen in anderen Ländern vor Kriegsverbrechen zu beschützen. Wenn das so wäre, dann hätte sich die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten auch in Tschetschenien, Myanmar und unzähligen afrikanischen Konflikten militärisch einmischen müssen. Das hat sie nicht getan. Wenn man die Forderung Selenskis, Döpfners und Tusks zu Ende denkt, müssten die Deutschen unter ihrer Schuld durch Unterlassung längst kollabiert sein.

Empörte Leserkommentare

Dass dieser historische Erpressungsversuch sein Ziel verfehlt, kann man auch den unzähligen Kommentaren deutscher Leserinnen und Leser zum Thema entnehmen, bei Medien des gesamten publizistischen Spektrums. Da werden der ukrainische Präsident und sein Berliner Botschafter Andrij Melnyk auffallend oft und harsch kritisiert.

Viele der Reaktionen mögen im Ton und Inhalt selbst daneben sein. Aber der geballte Unmut zeigt, wie sehr diese Form der politischen Kommunikation in die Hose gegangen ist.

Nur als Randnotiz: Jeder vierte Deutsche hat heute einen Migrationshintergrund. Das sind etwa 22 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Diese Bundesbürger – mit türkischen, polnischen und anderen familiären Wurzeln – werden sich erst recht nicht für die Lieferung von Kampfpanzern und Raketenwerfern aussprechen, weil man sie mit der Erinnerung an die Verbrechen der Nazis unter Druck zu setzen versucht. Ein ratloser Blick dürfte die freundlichste Reaktion sein.

Wer Menschen, egal, welcher Herkunft, davon überzeugen will, dass sich ihr Land für ein anderes engagieren soll, sollte sie wie Erwachsene behandeln und ihnen erklären, warum ein solches Engagement auch in ihrem eigenen Interesse wäre – und nicht, warum sie andernfalls schlechte Menschen wären. Es gibt Argumente gegen die Lieferung schwerer Waffen; die Angst vor einer Ausweitung des Kriegs gehört dazu. Es gibt aber auch Argumente dafür.

Russland wird Konfrontation nicht beenden

Weder kämpft die Ukraine nur für sich, noch werden Russlands imperiale Aggressionen mit diesem Krieg enden. Der Kreml hat den Westen als Ganzes zum Gegner erklärt, und das nicht erst jetzt. Deutsche, die meinen, ihr Land könne Wladimir Putin durch Passivität besänftigen, sollte man an die orchestrierten Fake-News-Kampagnen, die Hackerangriffe auf gewählte Volksvertreter oder den in aller Öffentlichkeit begangenen „Tiergartenmord“ erinnern.

Die Bundesrepublik wird nicht erst jetzt in einen Konflikt mit Russland gezogen. Der Kreml behandelt das Land schon lange wie einen Kontrahenten. Er wird die Konfrontation nicht beenden, weil die Deutschen ihr ausweichen.

Und damit noch einmal zurück in den dunkelsten Teil der deutschen Geschichte. Dieser ist natürlich auch dann kein überzeugendes Argument, wenn er gegen Waffenlieferungen ins Feld geführt wird, so geschehen kurz vor Kriegsbeginn. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock, die sich heute wortgewaltig für eine weiterreichende militärische Unterstützung der Ukraine ausspricht, wollte noch im Januar nichts von Waffenlieferungen wissen. „Unsere Geschichte“, erklärte sie damals feierlich, verbiete es.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22.4.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung