Russland gut, Türkei schlecht?

Erst wenn gleiche Maßstäbe für alle gelten, ist Außen- und Sicherheitspolitik glaubwürdig

von Matthias Höhn
Glaubwürdige Sicherheitspolitik: Skulptur im Garten der UN in New York

Die russischen Streitkräfte machten ihrem Präsidenten im Oktober ein besonderes Geburtstagsgeschenk. Sie meldeten den erfolgreichen Flug einer „Zirkon“, einer neuen Hyperschallwaffe. Diese öffentlichkeitswirksam präsentierten Fortschritte sind Teil eines großen Rüstungsprogramms Russlands und nur ein Beispiel für den gefährlichen Wettlauf, in dem sich die Welt seit einigen Jahren befindet.

Aus russischer Sicht sollen diese Waffen eine Lebensversicherung sein, die Fähigkeit zum Zweitschlag. Ob Russland diesen Rüstungswettlauf, der die gesamte Bandbreite militärischer Mittel umfasst, gegen wirtschaftlich deutlich potentere Länder durchhalten kann, darf bezweifelt werden. Aber angesichts der sowohl in Washington als auch in Moskau veränderten Militärdoktrinen, vor allem im nuklearen Bereich, vergrößern sich Risiken, wachsen Eskalationspotenziale. Die Schwellen zum Einsatz auch nuklearer Waffen sind gesunken.

Und noch etwas tritt hinzu: War es die Welt über Jahrzehnte gewohnt, dass sich zwei Weltmächte rüstungspolitisch gegenüberstehen, so hat sich dies verändert. Mit China hat sich ein Akteur auf der globalen Bühne etabliert, der in absehbarer Zeit Russlands Position übernehmen wird.

Und China hat sich noch mehr vorgenommen: Die Volksrepublik will bis 2050 die Nummer eins weltweit sein, auch militärisch. Die Weltmacht USA weiß das. Sie fürchtet um ihre globale Dominanz, die nicht allein aus ihrer wirtschaftlichen Stärke, sondern auch aus der massiven militärischen Überlegenheit resultierte.

Die Situation wird noch bedenklicher, schaut man sich an, was „unterhalb“ der Ebene dieser auf- und absteigenden Großmächte geschieht:

Überall wachsen Investitionen in Rüstung und Militär, in Demokratien ebenso wie in Diktaturen. Die Erosion der meisten Rüstungskontrollregime war Voraussetzung und gleichzeitig Motor dieser gefährlichen Dynamik.

Auch wenn in den verschiedenen politischen Lagern hierzulande viele beginnen, sich in lange eingeübten Formationen aufzustellen: Mit einfachen Schuldzuweisungen nach den alten Mustern wird man dieser Lage sicher nicht Herr. Eine neue Bedrohung des Westens durch China zu beschwören, russophobe Klischees zu pflegen, über den schon immer kritisierten westlichen Imperialismus zu lamentieren – all das ist kein akzeptierter Ansatz.

Die UN: Plattform für Verständigung

Es ist gut, dass DIE LINKE die Debatte über moderne Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufgenommen hat. Die eigenen Positionen zu prüfen, ist kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil, die rasanten Veränderungen weltweit zwingen dazu. Es wäre begrüßenswert, wenn auch andere politische Lager aus ihrer ideologischen Komfortzone herauskämen und eigenes Handeln der Vergangenheit einer kritischen Betrachtung unterzögen.

Kaum bemerkt begingen 2020 die Vereinten Nationen (UN) ihren 75. Geburtstag. Der Auftritt des UN-Generalsekretärs im Bundestag verschwand schnell aus den Nachrichten. Man könnte meinen, diese bemerkenswerte Institution sei ein Luxus für Zeiten, in denen wir uns nicht mit Pandemien herumzuschlagen haben.

Doch das Gegenteil ist der Fall! Erst in der Krise entfalten die Vereinten Nationen ihre Bedeutung. Als im Herbst 2015 die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) verabschiedet wurden, war das auch das zu Papier gebrachte Verständnis der Weltgemeinschaft, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit – Frieden, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Gesundheit und Klima – nur in einer multilateralen Welt bewältigt werden können.

Viel ist von diesem Verständnis in den letzten sechs Jahren, nicht zuletzt durch die Trump-Administration, kaputt gemacht worden. Doch andererseits zeigt die aus der Mitte der Völkergemeinschaft entsprungene Initiative für ein weltweites Verbot von Atomwaffen, dass dieser Ansatz lebt und durchsetzungsfähig ist.

Es war und ist ein kapitaler Fehler deutscher Außenpolitik, diese Abrüstungsinitiative so abschätzig begleitet zu haben. Für Linke müssen die Vereinten Nationen die zentrale Plattform internationaler Verständigung und Politik sein. Sie sind eine schützenswerte Konsequenz aus Faschismus und Krieg, sie sind das Gegenmodell zum Recht des Stärkeren.

Dazu gehört, sich als Linke auch zu den Regeln der UN zu bekennen. Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen und das Gewaltmonopol der UN dürfen keine leeren Proklamationen sein, ihre Glaubwürdigkeit entsteht erst durch ihre Durchsetzung.

Gegen politischen Opportunismus

Als die Krim völkerrechtswidrig in die Russische Föderation aufgenommen oder im Fall Nawalny Menschen- und Völkerrecht von russischer Seite gebrochen wurden, waren linke Reaktionen nicht selten abwartend, relativierend oder gar rechtfertigend. Nicht nur ein Fehler, sondern inakzeptabel. Alle anderen politischen Parteien fordern strenge Maßnahmen gegenüber Russland oder einzelnen Akteuren. Die Linke lehnt das größtenteils ab.

Als die Türkei in den vergangenen Jahren mal mittel-, mal unmittelbar Menschen- und Völkerrecht brach, ob beim Einmarsch in Nordsyrien oder bei der Einmischung in den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, war der Protest der Linken massiv. Zu Recht. Die Bundesregierung aber ist bis heute nicht bereit, gegen diese Politik Erdogans klare Worte zu sprechen und Konsequenzen zu ziehen. Auch das ist inakzeptabel.

Für linke Politik muss klar sein: Menschen- und Völkerrecht sind keine Fragen der politischen Opportunität. Sie gelten universell. Und auch ihre Durchsetzungskraft steht und fällt mit der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Kein Messen mit zweierlei Maß, sondern der Mut, an alle Länder, Regierungen und innerstaatlichen Akteure gleiche Maßstäbe zu legen – die Linke wäre die erste politische Kraft, die den Mut aufbrächte.

EU: Mehr Integration heißt mehr Sicherheit

Der europäische Kontinent ist 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf der Suche. In Westeuropa ringen die bürgerlichen Demokratien um Akzeptanz, in Mittel- und Osteuropa etablieren sich autoritäre Regierungen und destabilisieren damit die Europäische Union. Im Osten drängt die ökonomisch schwache Atommacht Russland auch mit Gewalt nach Anerkennung und Größe. Eine gefährliche Mischung.

Die Ursachen sind vielfältig, sie liegen in den ungenutzten Chancen nach 1990 und in schreienden Ungerechtigkeiten innerhalb und zwischen Gesellschaften, sie resultieren aus Demütigungserfahrungen ganzer Länder, sie werden verstärkt durch maximales Profitstreben globaler Konzerne und das Fehlen staatlicher Kontrolle, sie sind befeuert durch nationalistische Propaganda.

Es braucht eine Kraftanstrengung, eine größere als jene, die vor einem halben Jahrhundert den KSZE-Prozess ermöglichte. Es geht um spürbare Vertrauensbildung und eine glaubwürdige Integrationsperspektive. Neues Vertrauen kann nur aus Kommunikation, Verlässlichkeit und einem gemeinsamen Ziel erwachsen: eine integrative Struktur für den europäischen Kontinent.

Das ist aus linker Sicht nicht denkbar ohne Gleichheit und Gerechtigkeit nach innen wie nach außen. Diese müssen handlungsleitende Prinzipien für nationale Politiken wie für internationale Beziehungen sein. Sie stabilisieren Gesellschaften nach innen, stärken die Akzeptanz politischer Institutionen und Prozesse und fördern die Annäherung von Ländern und Kulturen.

Wer mehr Sicherheit in und für Europa will, muss sich auf den Weg zu mehr statt weniger Integration machen. Handlungsfelder für eine Außen- und Sicherheitspolitik auf der Höhe der Zeit liegen vor der Linken – sie muss sich nur trauen, diese Felder auch zu betreten.

Matthias Höhn ist MdB der Partei Die Linke seit 2017 und deren Sicherheitspolitischer Sprecher.

Dieser Beitrag ist erschienen in

WeltTrends
Das außenpolitische Journal:
"Aufrüstung und die Folgen", Ausgabe 174, April 2021

Potsdamer Wissenschaftsverlag
72 Seiten
Zeitschrift
5,80 Euro
ISBN 0944-8101 (ISSN)
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