Russland: Die stete Sonderpolitik der SPD
Die SPD und Russland haben eine lange Geschichte, aber durchschaut die Partei Putins Strategie?
Schon unser Starren auf das Pokerface des ewigen Außenministers, der eigentlich gar nichts zu sagen hat, und unser angespanntes Warten auf die Entscheidung des großen Leaders, der sich hier wie überhaupt das letzte Wort vorbehält, während der vollkommen anlasslose, in demonstrativer Öffentlichkeit vollzogene Aufmarsch seiner mittlerweile kriegserprobten Truppen immer noch weitergeht, trägt zur Verdummung bei und hat zugleich etwas Lähmendes. Und das ist natürlich Teil des Kalküls.
Indem wir wie Kaninchen auf die Schlange starren und die bloße „Abwendung einer Invasion“, die angeblich gar nicht geplant ist, am Ende als einen Erfolg der Diplomatie ansehen werden, hat Putin einige recht weitgehende Ziele bereits erreicht: Nicht nur die de facto Hinnahme der förmlichen Annexion der Krim und der Angliederung und Aufrüstung der Pseudo-Republiken im Donbass. Sondern wie nebenher ist es zu einem etablierten Faktum geworden, dass Belarus in den Status eines halbsouveränen Vasallen zurückgesunken und als militärisches Aufmarschgebiet jederzeit verfügbar ist – sei es gegen die Ukraine oder für beliebige Aktionen gegen die baltischen Republiken und gegen Polen, wie zuletzt beim zynischen Spiel mit den eingeflogenen Flüchtlingen.
Und das alles scheint nur das Präludium eines größeren weltpolitischen Machtspiels, das auf Europa, den Westen und die Welt im Ganzen zielt. Michael Thumann hat, fürchte ich, die Sachlage in der Zeit auf den Punkt gebracht: Wladimir Putin will keineswegs zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, der festen Lagerbildungen, gesicherten Einflusszonen und eines gegenseitig garantierten Gleichgewichts des Schreckens (was allerdings selbst ein viel zu idyllisches Bild dieses „Kalten Kriegs“ ist, der in Asien und Afrika in großen, mörderischen Stellvertreterkriegen ausgefochten wurde). Sondern Putin will, so Thumann, „vorwärts in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts, in der vor allem militärische Stärke und nationale Einheit zählt“.
Seine ultimativ vorgetragenen, für mehr oder minder unverhandelbar erklärten Forderungen und die ins weite Vor- und Umfeld Russlands gezeichneten „roten Linien“, die eine von Skandinavien über den Balkan bis zum Schwarzen Meer reichende Zone verminderter Souveränität umschreiben, laufen in der Konsequenz auf eine Revision der in den Neunzigerjahren von den Moskauer Vorgängerregierungen unterzeichneten Verträge und Vereinbarungen hinaus, die zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und des sich auflösenden Warschauer Pakts sowie den Ländern der westlichen Allianz geschlossen worden sind – und entgegen dem Bild eines „Vorrückens der NATO“ eine Phase beispielloser, beiderseitiger Rückzüge, Abrüstungen und Kooperationen eröffnet hatten.
Putins Ziel: Russlands geopolitisches Gewicht stärken
Eine solche, von angeblichen „Sicherheitsbedürfnissen“ Russlands diktierte Neuaushandlung wäre – jedenfalls der Intention nach – das Instrument, um das angeblich von Amerika beherrschte West- und Mitteleuropa aus seinen atlantischen Verankerungen zu lösen und seine Länder einzeln oder gemeinsam in eine neue, „von Lissabon bis Wladiwostok“ reichende Ordnung einzubinden. In ihr würde das überragende militärische und geopolitische Gewicht Russlands viel stärker als heute zur Geltung kommen. Und nur von dieser Position aus könnte es den Vereinigten Staaten als einer im Chaos versinkenden und gleichzeitig von China herausgeforderten Weltmacht wieder „auf Augenhöhe“ gegenübertreten – und China selbst hoffentlich auch.
Und das ist, wohlgemerkt, noch die allernüchternste Beschreibung dieser globalen Neuordnungs- und Weltmachtambitionen Moskaus. Wer sich in die von Kreml-Sprechern, Beratern des Präsidenten, Dutzenden offizieller Institute, Medienorganen, Debattenforen und vaterländischen Vereinigungen ausgebrüteten, im Netz zirkulierenden und jederzeit nachlesbaren Programme vertieft und die darin entfalteten, phantastisch-pseudologischen Selbstentwürfe einer einzigartigen, zur moralischen Sanierung der in Degeneration versinkenden Menschheit berufenen, stets opferbereiten russisch-orthodoxen Weltzivilisation ernst nimmt, muss buchstäblich überschnappen.
Dabei ist es nur ein schwacher Trost, dass dieses Russland der Ära Putins – der sich anschickt, länger als alle Zaren oder Generalsekretäre zu herrschen – weder seiner geistigen Ausstrahlung noch seiner politischen Statur noch seinem sozioökonomischen Gewicht nach von all diesen hypertrophen Selbstbeauftragungen irgendetwas im Kreuz hat. Im Gegenteil, es ist dabei, sich selbst zu ruinieren und in eine historische Sackgasse zu manövrieren.
Aber gerade das ist die innerste Ursache der Getriebenheit seines Führers, der von einem Pyrrhussieg zum nächsten eilt und immer neue Fronten eröffnet. Dass jeder seiner „Siege“ zwischen Donezk, Aleppo und Tripolis Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Menschen das Leben und die soziale Existenz kostet, macht alles nur noch ziel- und sinnloser.
Wohl wahr: Amerika hatte und hat sich ähnliche Fragen zu stellen – aber es stellt sie sich eben auch. In Russland werden alle, die Fragen stellen, wie zuletzt die Geschichts- und Menschenrechtsgesellschaft Memorial, als „ausländische Agenten“ und fünfte Kolonne ausgeschaltet. Das ist der Unterschied – und trägt zur unkontrollierten Steigerung der Einsätze bei.
Die SPD und die „weltpolitische Aufheizung“
Die Bundesrepublik mit ihrer frisch gebildeten Ampelkoalition, die ihre Belastbarkeit erst noch beweisen muss (was zweifellos Teil des Moskauer Kalküls ist), befindet sich so ziemlich im Zentrum dieser akuten weltpolitischen Aufheizung, ob sie will oder nicht. Und wenn man fragt, inwieweit wir als Staat und Gesellschaft auf solche weltpolitischen Wetterumschläge im weiten Osten eingestellt sind, fällt der Blick in erster Linie nicht auf die grüne Außenministerin und die beiden kleineren Koalitionsfraktionen, sondern auf die Sozialdemokraten als die Hauptregierungspartei, die sich aus Entspannungszeiten in diesen Dingen eine „einzigartige Erfahrung“ attestiert und auch deshalb die Führung bei der Russlandpolitik im Kanzleramt behalten möchte.
Dabei könnte man alles, was sich in einem relativ breiten Spektrum von der Linken bis zur äußersten Rechten, aber auch in der politischen Mitte von konservativen Landesherren in Bayern oder Sachsen über diverse Industrievertreter, die aus eigenen, bornierten Interessen heraus glauben, Sonderpolitiken treiben zu können, bis hin zu den vielen, hartnäckig fehlinformierten „Russlandverstehern“ zu einer merkwürdigen Querfront zusammenfügt, getrost vernachlässigen – wenn man nur sicher sein könnte, dass die führenden Köpfe und die überalterte Basis der Sozialdemokratie in der Lage sind, sich aus den sterilen Wiederholungszwängen einer immer wieder aufgefrischten „neuen Ostpolitik“ zu lösen und den tiefgreifend veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen.
Dafür müssten allerdings viele tief eingewurzelte Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen erst einmal zurechtgerückt werden. Und die Partei müsste sich mit ihrer eigenen jüngeren wie älteren Geschichte noch einmal auf neue, selbstreflexive, offene Weise auseinandersetzen.
Vielleicht ist es ein naiver Gedanke, anzunehmen, dass die älteste deutsche Partei, die über die Zeiten und Generationen hinweg ein historisch einzigartiges Rückgrat unserer demokratischen Entwicklung darstellt, noch immer einer kohärenten Traditionslinie folgt, die sich als solche erkennen lässt. Aber wie ungeheuer aufschlussreich wäre es gerade heute, wenn sie sich ihrer eigenen Traditionen und Evolutionen noch einmal vergewissern würde, und gerade mit Blick auf Russland.
SPD nach 1917: Misstrauen gegen die Bolschewisten
Man könnte sich etwa an jene Gedankenlinie erinnern, die von Marx und Engels als Gründungspaten an Bebel und Genossen weitergegeben wurde, in der das Zarenreich – dessen Glanz und Aura Putin und seine Ideologen so eifrig aufpolieren wollen – als ein auf maß- und ziellose Expansion ausgerichtetes, koloniales Imperium eigener, singulärer Art firmierte. Dessen reaktionärer Charakter zeigte sich über alle außenpolitischen Einflussnahmen hinaus gerade auch in der Knechtung des nominellen, dabei stets minoritären Staatsvolks der „Großrussen“ selbst, von den misshandelten Bauern bis zur gemaßregelten Intelligenzija, und gleichzeitig in der Unterdrückung aller nationalkulturellen Impulse der „fremdstämmigen“ Bevölkerungen, einschließlich der zu „Kleinrussen“ degradierten Ukrainer.
Dieser reaktionäre Charakter zeigte sich aber ebenso im verkehrten Kosmopolitismus eines Hof- und Grundadels und einer aus vielen Ländern, gerade auch aus Deutschland, zusammenrekrutierten Beamten- und Militärkaste samt Lobbyisten und Propagandisten, die die immensen Reichtümer des Landes in Baden-Baden verspielten oder an der Côte d'Azur verprassten oder in Paris und London bunkerten, statt sie im eigenen Land anzulegen. Ein Schelm, wer dabei nicht an die heutigen superreichen Kreml-Oligarchen denkt und bei der von Engels gegeißelten „Bande internationaler Abenteurer“ in Zarendiensten an jemanden, auf den wir noch kommen werden.
Die Kehrseite dieses Antizarismus war eine tiefe Verbundenheit mit den russischen Sozialisten, Dissidenten und rebellischen Massen – deren aus einer großen kulturellen und sozialökonomischen Aufstiegsbewegung genährte Unruhe Russland am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zum Land der Revolution par excellence machte. Wann hatte man je solche Szenen einer wirklichen Volksrevolution gesehen wie 1905, in denen alles in Rot getaucht war, in den russischen Zentren ebenso wie an der Peripherie von Warschau bis Baku – Szenen, die sich inmitten des Weltkriegs im Februar 1917 noch einmal wiederholten.
Aber eben deshalb war niemand so prädestiniert wie die deutschen Sozialdemokraten, und gerade die linken Unabhängigen und sogar (bevor sie ermordet wurden) die Köpfe von Spartakus, die tief russophilen Liebknecht und Luxemburg, um zu verstehen, dass die bis dahin randständige Führer- und Kaderpartei der Bolschewiki im Oktober 1917 nicht nur die Usurpatoren dieser großen russischen Volkserhebung, sondern mit ihrer Politik eines bedingungslosen Terrorismus auch ihre Totengräber waren. „Dann schon lieber den Strick“, notierte Luxemburg in ihrer Zelle, als sie von den Verhandlungen der Bolschewiki mit den Vertretern des deutschen Kaiserreichs über einen Separatfrieden hörte.
SPD nach 1945: Taub für Sirenenrufe aus Moskau
Die epochale, historische Aufspaltung der europäischen Linken in Kommunisten und Sozialdemokraten war eben keine bloß doktrinäre Affäre. Und sie hatte auch nicht nur damit zu tun, dass im monströsen Bürgerkrieg im zerfallenen Zarenreich die Sozialisten aller Richtungen und aller Nationalitäten von ihren bolschewistischen Exgenossen ruchlos unterdrückt wurden und zu den ersten Bewohnern der Urzelle des Gulag, der Solowki-Inseln im Eismeer, gehörten. Sondern diese Spaltung war auch ein Reflex der Versuche Sowjetrusslands, mit dem besiegten und niedergehaltenen Deutschland in eine revisionistische Sonderbeziehung einzutreten und unter dem Deckmantel des scheinbar harmlosen Vertrags von Rapallo eine konspirative Achse Moskau-Berlin zu schmieden, mit deutschen Militärs und Ultranationalisten ebenso wie mit den von Komintern-Emissären instruierten Kommunisten.
Wenn diese Versuche ein heilloses und zum Scheitern verurteiltes Unternehmen waren, dann nicht zuletzt auch wegen der Standfestigkeit der wiedervereinten Sozialdemokratie, die im Parteienspektrum der Weimarer Zeit am deutlichsten auf Ausgleich mit den Demokratien des Westens bedacht war – und vor allem auch deshalb in der stalinistischen Komintern- und KP-Propaganda als „Sozialfaschisten“ und Werkzeuge des Weltimperialismus denunziert wurden.
Diejenigen Sozialdemokraten, die nach 1945 in der wieder gegründeten SPD eine führende Rolle einnahmen, wie Kurt Schumacher und Fritz Reuter oder Willy Brandt und Herbert Wehner, waren jedenfalls noch gebrannte Kinder dieses Weltkriegszeitalters. Ihnen saß die Hilflosigkeit der tief gespaltenen deutschen Linken und Demokraten vor 1933 ebenso in den Knochen wie der Große Terror Stalins und seine verbrecherische Komplizenschaft bei der Entfesselung des Weltkriegs durch Hitler-Deutschland.
Und deshalb waren sie für Sirenenrufe aus Moskau, sich einer „Sozialistischen Einheitspartei“ anzuschließen, die unter der Fahne eines sowjetisch verstandenen Antifaschismus marschieren und in einem neutralisierten und vielleicht sogar wiedervereinigten Deutschland führend werden sollte, taub. Eben deshalb wurden die Sozialdemokraten im Zuge der Zwangsvereinigung zur SED, der Berlin-Blockade von 1948 und der deutschen Spaltung in der neu gegründeten DDR Walter Ulbrichts wieder zu einem der Hauptobjekte wüster Denunziationen und harscher Repressionen.
Deutsch-russische Sonderpolitik seit Brandt
Dass ausgerechnet Willy Brandt als Bürgermeister des durch eine Mauer brutal geteilten Berlin sich in den Sechzigerjahren an die Spitze einer „neuen Ostpolitik“ setzte, hatte gewiss eine eigene, innerdeutsche Logik, aber folgte auch einer globalen Tendenz der Détente nach der Kubakrise, als die Welt in den Abgrund geblickt hatte. „Wandel durch Annäherung“ war das Zauberwort, das über den Ostverträgen und dem ersten großen Röhrengeschäft als einem „Deal des Jahrhunderts“ schwebte.
Aber mit dem Wandel war es so eine Sache. Jedenfalls bestand zwischen den „Willy, Willy“-Rufen in Erfurt 1970 und der Platzierung eines Spions im Vorzimmer Brandts, über den er stürzte, ein ziemlich logischer Zusammenhang.
Dasselbe gilt in der Regierungszeit Helmut Schmidts umgekehrt aber auch für die von Egon Bahr betriebene Fortentwicklung der „neuen Ostpolitik“ zu einer Strategie der Zementierung des europäischen Status quo, die allen demokratischen Entwicklungen von unten, wie in Polen 1980, mit offenem Misstrauen begegnete. Insofern hatte es wieder seine Logik, dass die Verhängung des Kriegsrechts in Warschau im Dezember 1981 mit einem symbolträchtigen Treffen von Schmidt und Honecker beantwortet und die Signale auf business as usual gestellt wurden. Und es war wiederum Egon Bahr, der diesen militärischen Eingriff auch ausdrücklich als Recht der Sowjetunion anerkannte, in ihrem strategischen Vorfeld für Ruhe zu sorgen, so wie die „Breschnew-Doktrin“ es 1968 mit Blick auf die Tschechoslowakei reklamiert hatte.
Ob man Bahr, wie Timothy Garton Ash später schrieb, als einen „Schreibtisch-Metternich“ der Entspannungsperiode sehen muss, auch und gerade im Angesicht der Raketenkrise der Achtzigerjahre, kann dahingestellt bleiben. Es ging ohnehin nicht um eine Politik des duckmäuserischen Appeasement, sondern trug (nicht nur aus polnischer Perspektive) eher wieder fatale Züge einer deutsch-russischen Sonderpolitik, deren gravierendster Aspekt die weitgehende Verkennung der gesellschaftlichen Realitäten im längst rissigen Sowjetblock war, wo das Gras durch den Zement wuchs.
SPD nach Gorbatschow: Zustand der Lähmung
Jedenfalls ist festzuhalten, dass der große weltpolitische Umbruch von 1989 sich weder Gorbatschows Perestroika noch der amerikanischen Politik des „Totrüstens“ noch der „neuen Ostpolitik“ verdankte, sondern in erster Linie eine überfällige Implosion war. Sie erwischte alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik auf dem falschen Fuß, aber die SPD vermutlich am meisten. Willy Brandt stand auf seiner olympischen Höhe vielleicht schon ziemlich allein, wenn er den Fall der Berliner Mauer und der starren Ost-West-Teilung aus vollem Herzen begrüßte und der Art und Weise, wie Kohl und Genscher die europäische und deutsche Einheit in trockene Tücher brachten, applaudierte.
Das stand in einem markanten Gegensatz zu den Reaktionen der neuen Köpfe der SPD, insbesondere der unheilvollen, antagonistischen Dyade Lafontaine-Schröder, die beide, jeder auf seine Weise, ihre Partei in einen lang anhaltenden Zustand der Lähmung versetzt haben. Nach dem allzu leicht errungenen Wahlsieg von 1998, nach dem Weltattentat vom 11. September 2001 und dem dadurch provozierten „Krieg gegen den Terror“ haben sie auf ihre jeweilige Weise die Schlussfolgerung gezogen, dass die wohlbegründete Nichtgefolgschaft gegenüber den Vereinigten Staaten im Irakkrieg zu einer Politik der latenten Äquidistanz zwischen Washington und Moskau fortentwickelt werden müsse.
Es liegt jedenfalls eine seltsame Synchronizität darin, wie Lafontaine sich 2005 dem Projekt einer verstockt moskautreuen Linkspartei angeschlossen hat, während Schröder – nachdem er in Trumpscher Manier seine Wahlniederlage geleugnet hatte, seine Entfernung aus dem Amt aber nicht verhindern konnte – in einem fast beispiellosen Akt der Illoyalität unmittelbar in die Dienste seines Duzfreundes Putin getreten ist.
Man braucht die sentimentalischen Elemente in der einen wie in der anderen Entscheidung nicht zu negieren. Gravierender als alle Gratifikationen und Statusvorteile sind ohnehin die Realitätsverkennungen, die sie allerdings mit einem Gutteil ihrer Partei und der deutschen Öffentlichkeit teilen.
Dazu gehört die beharrliche Verleugnung der Tatsache, dass das als Antipode der Vereinigten Staaten und als Erbe der UdSSR militärisch-muskulös in die Weltarena tretende Russland in seinen Berufungen auf eine „tausendjährige“ Reichsgeschichte nicht nur eine ziemlich krude Geschichtsklitterung betreibt, sondern dass seine mit völkischen und geopolitischen Argumentationen (teils deutscher Provenienz) gedopte, vollkommen anachronistische Politik einer erneuten „Sammlung der russischen Erde“ für die Welt von heute ein fatales Vorbild liefert.
Man bestreitet, dass es die „Ukraine“ historisch je gegeben hat und heute gibt. Aber hat es die „Russländische Föderation“ je gegeben? Auch sie ist ein neues Staatsgebilde, das sich aus heterogenen Traditionen und dem Stoff einer Geschichte wiedererfinden muss, die man als eine Geschichte totaler Selbstzerfleischungen und Selbstzerstörungen überhaupt erst einmal begreifen muss – was unendlich schwierig und vor allem schmerzhaft ist. Aber der Flucht in eine pathetische neue Geschichtsmythologie, die die schlechtesten Traditionen aller Vorgängerstaaten aufnimmt, sollte man jedenfalls nicht sekundieren, und schon gar nicht im Namen einer „besonderen Verantwortung“ Deutschlands.
Die SPD und die Schuldhypothek
„Wir Deutschen“ (die migrantischen Neubürger müssen sich hier zwangsweise einschließen) haben in der Tat eine historische Schuldhypothek abzutragen – aber sicher nicht in erster Linie gegenüber „Russland“, sondern zuerst gegenüber den Juden und Polen, Weißrussen und Ukrainern und schließlich auch gegenüber den Russen. Andererseits: Könnte man die verblichene UdSSR nicht auch, ebenso wie das Zarenreich, in dessen Herrschertraditionen sich Wladimir Putin als eine Kunstfigur aus Stalin und den starken (extra-reaktionären) Zaren einschreiben möchte, für viele Fatalitäten der deutschen oder der jüngeren Weltgeschichte überhaupt verantwortlich machen? Es ist ein verquerer deutscher Narzissmus, hinter dem ganz eigene Größenphantasien stecken, die sich in das Gewand einer „besonderen historischen Beziehung“ kleiden und sich auf der extremen Rechten in Varianten eigener Eurasier-Phantasien sogar ganz explizit finden.
Und zuletzt: Warum soll das bis an die Zähne bewaffnete, von niemandem im Geringsten bedrohte Russland legitime „Sicherheitsinteressen“ haben, die es ihm erlauben müssten, in einem weiten Radius seine Nachbarländer in einen Zustand der Halbsouveränität zu versetzen, weil Moskau angeblich von amerikanischen Raketen in der Ostukraine oder dem Baltikum getroffen werden könnte. Und wir? Könnte nicht Berlin in weniger als drei Minuten von dem hartnäckig stalinistisch benannten „Kaliningrad“ aus pulverisiert werden – jenem vorgeschobenen Raketen- und Militärstützpunkt, über den (aus begreiflichen Gründen) niemand sprechen möchte, weil man dann jene Fässer aufzumachen fürchtet, die Putin seinerseits an zehn Ecken aufgemacht hat.
Ob und wie der russische Führer aus dieser Nummer mit seinem Ukraineaufmarsch wieder herauskommt, und wir alle (hoffentlich heil) mit ihm, ist noch kaum abzusehen. Die sozialdemokratisch geführte Regierung wird sich, um realitätstüchtig zu agieren, von einigen ihrer Hypotheken und Erbschaften losmachen und über ihren Schatten springen müssen. Dazu gehören an vorderster Stelle die von Schröder eingefädelten North-Stream-Projekte, deren Abschluss und Fortschreibung im Jahr 2012 mit ins Vorfeld des ersten Ukrainefeldzugs Putins geführt haben. „Realpolitik“? Ja, bitte – aber eine, die diesen Namen verdient.
Der Historiker Gerd Koenen veröffentlichte zuletzt „Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 24.1.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.