Putins Spiel mit dem Feuer
Wie wird Putins Krieg in der Ukraine enden? Interview mit Nina L. Chruschtschowa
Im Juni 2021 argumentierten Sie, dass wir in einer Zeit leben, die von derselben Art „nuklear brinkmanship“ (nuklearem Spiel mit dem Feuer) gekennzeichnet sei wie die 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Angesichts der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgesprochen nuklearen Warnungen ist das Risiko einer verheerenden Fehlkalkulation, auf das Sie hingewiesen haben, neuerlich deutlich geworden. Welche Lehren aus dem Kalten Krieg sollten die Bemühungen zur Abwendung einer nuklearen Katastrophe heute und in Zukunft prägen?
Nina L. Chruschtschowa: Ich habe im vergangenen Jahr Serhii Plokhys Buch „Nuclear Folly: A New History of the Cuban Missile Crisis“ besprochen, um genau diese Frage zu beantworten. Auch wenn nuclear brinkmanship mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine in den Blickpunkt gerückt ist, wurde der Boden dafür 2001 bereitet, als Präsident George W. Bush entschied, dass die USA aus dem ABM-Vertrag von 1972 aussteigen würden, der als ein Grundstein strategischer Stabilität galt. Nach diesem Schritt begannen sowohl die USA als auch Russland, das im Gefolge der Kubakrise entstandene strategische Waffenkontrollsystem, das ähnliche Konfrontationen vermeiden sollte, allmählich auszuhöhlen.
Fünfzig Jahre später scheint uns die Logik, die das Entstehen jenes Systems begünstigte, abhandengekommen zu sein. Die Beilegung der Kubakrise dauerte 13 Tage. Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy erkannten beide, dass die kleinste Fehlkalkulation oder der geringste Unfall zu einer weltweiten nuklearen Katastrophe führen könnte.
Bei unseren gegenwärtigen Führern ist keine ähnliche Sorge um die Menschheit zu erkennen, wobei Putin eine besonders rücksichtslose und sogar grausame Einstellung gegenüber Menschenleben an den Tag legt. Der erste Schritt zurück vom Abgrund muss die Anerkennung und Würdigung der existenziellen Beschaffenheit der nuklearen Bedrohung sein.
Wochen bevor russische Streitkräfte in die Ukraine einfielen, argumentierten Sie, dass es Putin nicht darum gehe, als Teil eines „Vermächtnis-Projekts“ „die Sowjetunion wiederherzustellen“, sondern vielmehr darum, Russlands Status als „besondere Nation“ mit eigener Einflusssphäre zu stärken. Die Invasion scheint dies zu bestätigen, auch wenn sie aus Ihrer Sicht zugleich einen alarmierenden Mangel an Pragmatismus zeigte. Was für Drohungen oder Zugeständnisse könnten Putin dazu bewegen, die Gewalt in der Ukraine zu beenden? Würden derartige Zugeständnisse das Risiko einer russischen Aggression gegenüber anderen ehemaligen Sowjetrepubliken erhöhen – oder sogar gegenüber früheren sowjetischen Satellitenstaaten, die heute fest in der Europäischen Union und der Nato verwurzelt sind?
Ich habe bis zur allerletzten Minute geglaubt, dass Putin nicht wirklich einen Krieg gegen die Ukraine beginnen würde. Schließlich hat er lange einen gewissen Pragmatismus gezeigt, indem er in der Vergangenheit ziemlich genau so viel abgebissen hat, wie er kauen konnte.
Man betrachte etwa den Krieg in Georgien 2008. Russland marschierte schnell in der Hauptstadt Südossietiens, Tchinwali, ein und zog sich dann rasch wieder zurück, nachdem der damalige georgische Präsident Micheil Saakaschwili – der die Wiederherstellung der georgischen Kontrolle über die selbsternannten Republiken Südossetien und Abchasien zu einem zentralen Ziel erklärt hatte – die Bombardierung der Stadt angeordnet hatte. Der komplette Konflikt dauerte nicht einmal zwei Wochen und endete damit, dass Russland Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten anerkannte. Russlands Annexion der Krim von der Ukraine war eine weitere schnelle, weitgehend geheime Operation.
Der Einmarsch in der Ukraine – der sich nach drei Monaten sehr lautstarker internationaler Gespräche über die Möglichkeit vor den Augen der ganzen Welt ereignete – war sehr uncharakteristisch für Putin. Während sich Putins Rhetorik, die das Existenzrecht der Ukraine als unabhängiger Staat in Frage stellte, bereits eine Weile verschärft hatte, schien die Entscheidung, dort einzumarschieren, unbesonnen und impulsiv – nicht zuletzt, weil sie Russlands nationalem Interesse zuwiderläuft.
Nun jedoch, da Putin diese Entscheidung getroffen hat, besteht kaum eine Chance, dass er so einfach aufgeben wird. Stattdessen wird er die Gewalt fortsetzen, bis seine Forderungen erfüllt sind. Das bedeutet, die Ukraine müsste womöglich die Krim als Teil Russlands und Donezk und Luhansk als unabhängige Republiken anerkennen und Putin so einen Landkorridor hin zur Krim überlassen. Sie müsste sich zudem zu strategischer Neutralität verpflichten und eine Begrenzung ihrer Streitkräfte akzeptieren.
Ob die Ukraine diesen ziemlich drastischen Bedingungen zustimmen wird, ist eine andere Frage. Doch wird die ukrainische Führung der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass Putin wenig zu verlieren hat. Zudem scheint Putin, wie Richard Haass vom Council on Foreign Relations kürzlich angemerkt hat, mehr daran interessiert zu sein, seinen Standpunkt durchzusetzen – nämlich, dass man Russland nicht missachtet oder seinen Präsidenten brüskiert – als eine Übereinkunft zu schließen. Auf jeden Fall muss eine ggf. zwischen beiden Seiten erreichte Übereinkunft Bestimmungen enthalten, die es Russland in wirksamer Weise verbieten, in seiner Nachbarschaft je wieder Ähnliches zu probieren.
Sie haben nach Beginn der Invasion im vergangenen Monat geschrieben, dass die Russen sich dem Putin-Regime stärker widersetzen als in der Vergangenheit. Doch während sich gewisse Antikriegsproteste fortgesetzt haben, hat der Kreml das komplette Spektrum polizeistaatlicher Taktiken eingesetzt und den Zugang der Russen zu einer unabhängigen Berichterstattung über den Krieg stark eingeschränkt. Welchen Unterschied könnte ein öffentlicher Widerstand gegen den Ukraine-Krieg machen, und was sind seine Grenzen? Ist Putins Propagandamaschine ins Wanken geraten, wie einige westliche Medien suggeriert haben, oder könnte er es schaffen, diesen Krieg zu nutzen, um seinen Ruf im Inland zu stärken?
Die Propagandamaschine des Kremls arbeitet mit Vollgas und porträtiert jeden, der mit der russischen „Sonderoperation“ nicht einverstanden ist, als „Volksfeind“. Das Gesetz aus dem Jahr 2012, das es dem Kreml erlaubt, vermeintliche Gegner, die Geld aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ zu brandmarken, wird umfassender angewandt denn je zuvor; jeder Journalist oder Mitarbeiter einer „auslandsfinanzierten“ Organisation wird jetzt so bezeichnet. Viele tausende Menschen werden nun zusätzlich als Feinde der „russischen Identität“ tituliert werden – ein vages Konzept, das zu implizieren scheint, dass „echte“ Russen antiwestlich eingestellt sein müssen.
Bald wird es keine Stimmen mehr geben, die Putins Narrativ in Frage stellen, wonach der Westen es darauf anlegt, Russland zu zerstören. Alles, was die Russen wahrnehmen werden, sind beispiellose westliche Wirtschaftssanktionen – die den Normalbürgern Tribut abfordern – und ein weltweiter Boykott russischer Kultur, des russischen Sports und der russischen Zivilgesellschaft (oder was davon übrig ist). Indem sie die Russen zur Übernahme einer Kollektivverantwortung für den Putinismus zwingt, stärkt die internationale Gemeinschaft Putin, angeführt von den USA, statt ihn zu vernichten. Womöglich wird das russische Volk eines Tages einen Aufstand gegen den Kreml führen, wie der Westen das zu hoffen scheint, doch bis dahin werden viele tot oder im Exil sein.
Sie haben darauf hingewiesen, dass Russland heute viel isolierter dasteht als selbst die Sowjetunion unter Führung Ihres Großvaters, Nikita Chruschtschow. Im Jahr 2019 haben Sie und Jeffrey Tayler das Buch „In Putin’s Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia’s Eleven Time Zones“ veröffentlicht, das ein Porträt Russlands konstruierte, in dem es eine Stadt in jeder seiner elf Zeitzonen untersuchte. Wie werden die Russen diesen neuen Paria-Status aufnehmen – nicht nur in Städten wie Moskau und St. Petersburg, sondern im ganzen Land, das Sie als „einheitlich uneinheitlich“ beschrieben haben?
Die Isolation, die den Russen begegnen wird, wird jener der Stalin-Zeit und nicht der Chruschtschow-Ära ähneln. In den späten 1950er- und den 1960er-Jahren waren die Grenzen geschlossen, doch es gab aktive kulturelle, wissenschaftliche und sonstige Austauschprogramme, funktionierende Botschaften und eine Nachrichten-Berichterstattung durch westliche Medien. Heute wurde all dies größtenteils beseitigt oder ist stark gefährdet.
Moskau und St. Petersburg – die beiden echten Weltstädte Russlands – werden gewaltig unter den nun errichteten Barrieren leiden. Doch wird man diese neue globale Isolation auch in anderen wichtigen russischen Großstädten akut zu spüren bekommen: in Jekaterinburg, der Stadt Boris Jelzins, in Nowosibirsk, einem hochentwickelten Zentrum der Wissenschaft, in Wladiwostok, der kosmopolitischsten russischen Stadt an der Pazifikküste, und auch anderswo. Kleinere Städte werden die Veränderung womöglich zunächst nicht so stark bemerken, doch langfristig wird die Isolation auch sie in Mitleidenschaft ziehen.
Putin sagt, Russland brauche den Westen nicht, und verspricht, dass das Land aus eigener Kraft florieren werde. Doch lassen diese Behauptungen die historischen Belege, einschließlich Russlands eigener Erfahrung während der Sowjetzeit, komplett außer Acht. Keinem Land geht es besser, wenn es von der Welt abgeschnitten ist.
Sie und Tayler kommen zu dem Schluss, dass Russlands enorme Aktiva – von seinen Rohstoffen über die ethnische Vielfalt bis hin zu den Bildungseinrichtungen – es zusammen mit den USA zu einer der beiden „unverzichtbaren Nationen“ der Welt machen. Was dürfte der Westen, abgesehen von Energie- und einigen anderen Rohstoffimporten, durch Russlands Isolation verlieren?
Auf Russland entfällt ein erheblicher Teil des eurasischen Kontinents; es ist kein Nordkorea oder selbst Iran. Wenn man es, was Wirtschaft, Kommunikation und Informationen angeht, im Wesentlichen in ein schwarzes Loch verwandelt – und Zugang zu seinen enormen Ressourcen verliert, darunter seinen natürlichen Ressourcen und seinem Humankapital – läuft das schon allein aufgrund seiner Größe auf einen großen Verlust hinaus. Die russische Kultur durchdrang die Welt sogar während der Stalin-Ära. Darüber hinaus sollte man die Rolle der Sowjetunion beim Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg nicht vergessen.
Doch der womöglich größte potenzielle Nachteil einer Isolation Russlands ist, dass sie den Kreml noch gefährlicher machen wird. Hat man Russland erst einmal von den globalen Systemen und Institutionen ausgeschlossen – der jüngste Vorschlag, den US-Präsident Joe Biden auf seiner Reise nach Europa gemacht hat, ist ein Ausschluss Russlands aus der G20 –, werden äußere Mächte nur noch sehr wenig Einfluss auf das Land haben. Wenn man dann noch die inneren Repressionen und die Ansicht dazu nimmt, dass Russland übel mitgespielt wurde, ist nicht absehbar, wie der Kreml um sich schlagen könnte.
Eine seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine wiederholt aufgeworfene Frage – u. a. in einem jüngsten Podcast der Los Angeles Times, bei dem Sie zu Gast waren – ist, welche Rolle China spielen könnte, sei es als Stütze der russischen Volkswirtschaft oder indem es Druck auf Putin ausübt, die Gewalt zu beenden. Wie viel Einfluss hat der chinesische Präsident Xi Jinping auf Putin, und was sind die wirksamsten Hebel, die er nutzen könnte, falls er sich zum Eingreifen entschlösse?
Es ist möglich, dass Xi mehr Hebel kontrolliert, um Putins Handlungen zu beeinflussen, als irgendein anderer Staats- oder Regierungschef. Das fängt mit der Bereitstellung – oder Zurückbehaltung – wirtschaftlicher Unterstützung an. Hätte Xi versucht, eine Mittlerrolle zu spielen, so hätte er wirklich etwas bewirken können, nicht zuletzt, weil ein derartiger Schritt für China so ungewöhnlich gewesen wäre.
Doch bisher scheint er wenig Interesse daran zu haben, einzugreifen; es scheint, dass er Putins Handlungen weder billigen noch verurteilen möchte. Vielleicht möchte er westliche Vergeltungsmaßnahmen vermeiden, die Biden angekündigt hat. Oder vielleicht ist er einfach zu dem Schluss gekommen, dass Putins Krieg es nicht wert ist, darüber Chinas Ruf zu riskieren.
Das mag sich ändern. Aber es ist durchaus möglich, dass Xis Interessen mit einer Fortsetzung des verheerenden Kriegs in der Ukraine besser gedient ist als mit seiner Beendigung. Im Vergleich zu Putin scheint Xi ganz besonders berechenbar und pragmatisch zu sein. Zugleich jedoch sendet Putins Aggression eine wichtige Botschaft aus: Drängt einen autoritären Führer nicht an den Rand des Abgrunds.
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