Putin handelt machtpolitisch rational
Putins Popularität schwindet, nun scheint er auf ein militärisches Abenteuer zu setzen
Die Entscheidungen Wladimir Putins zur militärischen Gebietsexpansion Russlands waren 2008 in Georgien sowie 2014 in der Ukraine machtpolitisch rational. Ein dritter solcher Entschluss in den kommenden Wochen und Monaten wäre es ebenso.
2008 folgten keinerlei Sanktionen des Westens auf die faktische russische Okkupation Südossetiens und Abchasiens. Das einzige relevante Sanktionspaket der EU im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt wurde im Sommer 2014 knapp zwei Wochen nach dem russischen Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine am 17. Juli 2014 verabschiedet.
Die bis heute anhaltenden und moderat wirksamen Sanktionen waren weniger eine Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine. Vielmehr stellten sie eine Bestrafung Moskaus für den Tod von mehr als 200 EU-Bürgern dar, die sich auf dem MH-17-Flug befunden hatten. Wirklich schmerzhafte EU-Sanktionen in Reaktion auf Moskaus Abenteuer im postsowjetischen Raum – so die Lehre aus den verschiedenen Kriegen Russlands in Osteuropa und im Kaukasus der letzten dreißig Jahre – hatte es noch nie gegeben und wird es wohl auch nie geben.
Für Russland waren 2008 und 2014 die ökonomischen Kosten der gewaltsamen Eskalationen in Georgien und der Ukraine ebenso niedrig wie für das Putin-Regime die kurzfristigen innenpolitischen Gewinne hoch. Daher wären ungetätigte militärische Interventionen in Südossetien sowie Abchasien 2008 und auf der Krim sowie im Donezbecken 2014 realpolitische Unterlassungssünden gewesen.
Die Popularität der derzeitigen russischen Herrschaftsriege sinkt seit etlichen Monaten aufgrund weitreichender, in der offiziellen Statistik Russlands beschönigter humanitärer, sozialer und ökonomischer Folgen der Coronakrise sowie der allmählichen Verwandlung Alexei Nawalnys in einen politischen Märtyrer. Damit hat sich seit 2020 der Einsatz für Putin und seine Machtclique deutlich erhöht.
Vor diesem Hintergrund und im Vorlauf der anstehenden Staatsduma-Wahlen im September 2021 hat sich auch der relative innenpolitische Gewinn eines weiteren außenpolitischen Abenteuers vergrößert. Daher dürften sich die derzeitigen Spannungen zwischen Russland und dem Westen sowie der Ukraine zumindest bis zu den russischen Parlamentswahlen im September fortsetzen bzw. verschärfen. Im schlimmsten Fall könnte sich der derzeit köchelnde Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in einen traditionellen sowie nunmehr offenen zwischenstaatlichen Krieg verwandeln.
Ukraine als Test für Waffensysteme?
Zwar verfügt die Ukraine im Gegensatz zur ersten aktiven Kriegsphase 2014 bis 2015 heute über eine ernstzunehmende und im gesamteuropäischen Vergleich relativ große sowie kampferfahrene Armee. Allerdings würde ein nun nicht mehr – wie bisher – verdeckter Krieg Russlands gegen die Ukraine dem Kreml freiere Hand bei der Verwendung verschiedenartiger zerstörerischer Waffensysteme geben.
Bisher hat sich Moskau weitgehend auf die hochgerüsteten, aber vergleichsweise unmodern ausgestatteten irregulären Kampfeinheiten seiner beiden Satelliten- bzw. Pseudostaaten, die sogenannte Donezker und Lugansker Volksrepublik, im Donezbecken gestützt. Auch hat Russland die Ukraine gelegentlich von russischem Boden aus unter Artilleriebeschuss genommen. In kritischen Situationen hat Moskau reguläre mobile Infanterieverbände der russischen Armee in die Ukraine entsandt.
Sollte es jetzt allerdings einen traditionellen und nicht nur einen Stellvertreterkrieg Russlands gegen die Ukraine geben, ist zu befürchten, dass auch die russischen Luftstreitkräfte und womöglich sogar Raketentruppen gegen die Ukraine aktiv werden. Zwar würde Moskau höchstwahrscheinlich keine Massenvernichtungswaffen in der Ukraine einsetzen. Jedoch könnte bereits ein russischer Einsatz von Bombenflugzeugen, schwerer Artillerie, Kurzstreckenraketen und Marschflugkörpern mit konventionellen Sprengköpfen in der Ukraine enorme, ja katastrophale Folgen haben.
Wasser für die Krim
Eine neuerliche Gebietsexpansion Russlands in die Ukraine könnte etwa die militärische Eroberung des Nordkrim-Kanals in der südlichen Festland-Ukraine zur Sicherstellung der Versorgung der Krim mit Süßwasser aus dem ukrainischen Fluss Dnipro zum Ziel haben. Ein derartiger internationaler Spannungsanstieg sowie ein neuer russischer Geländegewinn in der Südukraine wären für den Kreml wahltaktisch und machtstrategisch attraktiv. Ein mit humanitären Argumenten begründeter Einfall und etwaiger militärischer Triumph Russlands in der südlichen Festlandukraine wäre als Wahlkampfthema für Putins Regierungspartei besser geeignet als ein langwieriger, verspäteter und innenpolitisch nur wenig gewinnbringender Bau von Entsalzungsanlagen zur Süßwasserversorgung der Krim mit Schwarzmeer-Wasser.
Auch wenn der Kreml sich letztlich gegen einen großen Krieg in der Ukraine entscheidet, dürften die nächsten Monate angespannt bleiben. Die Ukraine wird – wie es derzeit aussieht – in jedem Fall mit mehr oder minder großen Verlusten aus derzeitigen Eskalationen hervorgehen.
Die EU wird vermutlich auch in dieser Auseinandersetzung wieder rhetorisch aufrüsten, aber in der außen- und wirtschaftspolitischen Praxis passiv bleiben, solange es nicht neuerlich zu einer russischen Massentötung von EU-Bürgern kommt. Es wird daher im Wesentlichen von den USA und Großbritannien abhängen, wie weit Putin und seine Kumpane in der Ukraine gehen werden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 19. April 2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.