Fall Nawalny: Putins willige Helfer
Amnesty International hat Nawalny degradiert, russische Medien schlagen daraus Kapital
Margarita Simonjan triumphierte. Gerade war bekanntgeworden, dass die weltweit bekannteste Menschenrechtsorganisation, Amnesty International, den inhaftierten russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny nicht länger als "gewaltlosen politischen Gefangenen" bezeichnet. Nun twitterte die Chefredakteurin des Staatssenders RT, deren dubiose Geschäfte Nawalny mit seiner Stiftung zum Kampf gegen Korruption enthüllt hat, Amnesty habe so entschieden, "nachdem unsere Kolumnistin sie mit konkreten Beispielen daran erinnert hat, dass er ein Nazi ist". Die Kolumnistin, eine in New York lebende Russin, hatte Nawalny in englischen Tweets als "bekennenden Nationalisten und Rassisten" bezeichnet.
Für den Kreml ist Amnestys Umgang mit Nawalny ein Erfolg. Seit Monaten führen russische Staatsmedien eine Kampagne, um Putins wichtigsten Gegner kleinzureden und anzuschwärzen. Nawalny ist nach der knapp überlebten Vergiftung, der Behandlung in Deutschland und der Enthüllung des Killerkommandos vom Geheimdienst FSB zum Problem von internationalem Ausmaß geworden. Den Russen wird er als Agent des Westens und Beleidiger von Weltkriegsveteranen vorgestellt.
Für das Ausland wurden Vorwürfe aus Nawalnys Vergangenheit aufgewärmt, als der Politiker in Kreisen von Nationalisten nach Verbündeten gegen Putin suchte. Denn der Kreml weiß, wie sensibel viele Menschen im Westen auf solche Vorwürfe reagieren, und nutzt die Bedeutung der politischen Korrektheit dort aus.
Zwar wies die Londoner Amnesty-Zentrale Medienberichte zurück, die Entscheidung sei "von der Schmutzkampagne des russischen Staats beeinflusst". Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bestätigte die Organisation aber, dass die "Kreml-Propaganda-Maschine" Amnesty mit "orchestrierten Mitteilungen" auf alte Kommentare Nawalnys erst "aufmerksam gemacht" habe. Es geht um inhaltsgleiche Mails an Amnesty in mehreren westlichen Ländern mit aggressiv formulierten Fragen, wie sich Nawalnys Kommentare mit Amnestys Definition eines "gewaltlosen politischen Gefangenen" vertrügen.
Dilemma aus Sorge um Prinzipien
Man habe die Äußerungen trotz der Kreml-Kampagne prüfen müssen, hebt Amnesty hervor und spricht von einem "Fehler", die Kommentare nicht eher berücksichtigt zu haben. Denn Nawalny war für Amnesty bei früheren Arreststrafen ein "gewaltloser politischer Gefangener" und sofort wieder, nachdem er am Abend des 17. Januar an einem Moskauer Flughafen bei der Rückkehr aus Deutschland festgenommen worden war.
So entstand ein Dilemma aus Sorge um Prinzipien einerseits und Konsequenzen andererseits, denn Amnesty wollte Nawalny nicht schaden. Der schwebt laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der willkürlichen Haft in Russland in Lebensgefahr. Das Ergebnis der Abwägung der Menschenrechtler sollte ein Kompromiss sein: einerseits die Gefangenenbezeichnung nicht mehr für Nawalny verwenden, andererseits die Kampagne für seine Freilassung weiterführen, da er nur wegen seiner Korruptionsenthüllungen und seines friedlichen Aktivismus verfolgt werde.
Die Verdruckstheit zeigt, dass weiter unbekannt ist, an welchen alten Äußerungen sich Amnesty überhaupt stieß. Die Londoner Zentrale legte nur dar, "einige frühere Kommentare" Nawalnys hätten "die Schwelle zur Befürwortung von Hass erreicht" und Nawalny habe sich davon "nicht öffentlich distanziert".
Aus Interviews mit Amnesty-Mitarbeitern wurde klar, dass es um Aussagen über Migranten aus der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre gehe. Vermutlich um zwei Videos von 2007: In einem vergleicht Nawalny nordkaukasische Terroristen mit Kakerlaken und wirbt für Schusswaffen, im anderen für die Abschiebung zentralasiatischer Migranten.
Ausdrücklich losgesagt von den alten Aussagen hat Nawalny sich wirklich nicht. Er gibt selten Fehler zu; was im Westen geboten ist, gilt in Russland als Schwäche, die schadet.
Aber Nawalny hat längst Programme vorgelegt, in denen sich keine Spur findet vom "ethnischen Nationalismus", der ihm früher vorgeworfen wurde. Er setzte sich für Opfer politischer Verfolgung auch unter Minderheiten wie den muslimischen Krimtataren ein.
Die Kreml-Propaganda bezeichnet ihn zu allem Übel als Antisemiten, aber die jüdische Moskauer Journalistin Jewgenija Albaz erinnerte daran, wie sie einst Nawalny auf die Nationalistenveranstaltung "Russischer Marsch" begleitete. Dort habe er auf Teilnehmer eingeredet, ihre wahren Feinde seien nicht Leute "nichtslawischen Aussehens", sondern korrupte Eliten, die Russland "wie Vampire aussaugen".
Der Westen: von Feministinnen verweichlicht
In Russland ziehen Nationalismusvorwürfe nicht, wie überhaupt der Ton viel rauer ist. Der Machtapparat sieht, wie viele Russen, die Bewohner westlicher Länder verweichlicht von Feministinnen und ruiniert von Rücksicht auf Minderheiten. Das Staatsfernsehen lässt wie zu sowjetischer Zeit den dekadenten Westen untergehen, bezeichnete etwa die "Me Too"-Bewegung als "Amoklauf der politischen Korrektheit".
Intellektuelle feiern Russland als "von Gott errettetes Vaterland, das noch nicht sehr vom Feminismus berührt ist" (so der Kreml-Ideologe Wladislaw Surkow), oder kritisieren Europa als "neues ethisches Reich", in dem "die Nazis ersetzt wurden durch einen ebenso aggressiven und nach der totalen Umformierung der Welt gierenden Mix aus Queer-Aktivisten, Fem-Fanatikern und Ökopsychopathen" (so der Theaterregisseur Konstantin Bogomolow).
Als Journalistinnen 2018 dem Duma-Abgeordneten Leonid Sluzkij sexuelle Belästigung vorwarfen, stellte sich der Apparat vor diesen. Auch jugendlicher Nationalismus samt Hitler-Gruß und "Weiße aller Länder, vereinigt euch"-Schild sind bei Putin-Treue kein Problem, was die lange Karriere Dmitri Rogosins bezeugt, der die Weltraumbehörde leitet.
Zugleich nutzt Moskau aus, dass im Westen andere Maßstäbe gelten. Das Potenzial für solche Kampagnen reicht über den Fall Nawalny hinaus. Grund ist die immer weiter um sich greifende Cancel Culture, auf Deutsch Absage- oder Löschkultur genannt: die Praxis, öffentlichen Figuren vor dem Hintergrund angeblich diskriminierender, beleidigender Äußerungen oder Handlungen die Unterstützung zu entziehen, auch wenn die Vorgänge lange zurückliegen.
"Der Kreml benutzt Techniken der Cancel Culture, um die russische Opposition zu diskreditieren", sagt Anton Shekhovtsov; der Fachmann für Verbindungen des Kremls zu radikalen Kräften im Westen leitet das in Wien ansässige Centre for Democratic Integrity. Cancel Culture sei eine "Schwäche des Westens", weil sie die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft fördere – und die nutzten "böswillige Kräfte wie Russland" aus, bemühten sich, die Spaltungen zu vertiefen, um ihren Einfluss zu vergrößern.
Des Kremls willige Helfer
Dabei helfen dem Kreml Verbündete wie The Grayzone. Ein Journalist dieses amerikanischen Newsportals veröffentlichte auf Twitter eine E-Mail, die Amnestys Verrenkungen zu Nawalny schlagartig bekanntmachte. Er habe einen Hinweis auf die Diskussion bei Amnesty bekommen, erklärte der Journalist. Gegründet wurde The Grayzone von einem RT-Kommentator, der kurz zuvor an der Zehnjahresfeier des Staatssenders in Moskau teilgenommen hatte.
Das angeblich unabhängige Investigativprojekt mit unklarer Finanzierung verfolgt Anliegen, die dem Kreml zupasskommen: Es verteidigt die Regime in Syrien und Venezuela und schreibt gegen die Nato, westliche Medien und das Investigativprojekt Bellingcat an, das Nawalnys mutmaßliches Killerkommando aufspürte.
Auch die von RT-Chefin Simonjan gefeierte Kolumnistin tritt auf The Grayzone auf. Sie positioniert als linke Aktivistin, veröffentlichte sie aber auch bei anderen Medien, verbreitete schon Kreml-Narrative zu einer angeblich ultranationalistischen, neoliberalen Regierung in Kiew nach dem Umsturz 2014 und Entsprechendes zur Protestbewegung gegen die Diktatur in Belarus.
Russlands Macht- und Medienapparat macht geneigte Stimmen sichtbarer, schafft Gegenöffentlichkeit. Wenn solche Quellen etwas veröffentlichen, ist das glaubwürdiger, als wenn es Kreml-Medien tun. Wie bei der Geldwäsche geht es darum, den Ursprung des Narrativs zu verschleiern.
Was passiert, wenn das nicht gelingt, zeigt der Vorstoß gegen den russischen Eishockeystar Artemi Panarin, der für die New York Rangers und für die russische Nationalmannschaft spielt. Panarin hat 2019 in einem Interview gegen Putin und jüngst für Nawalny Stellung bezogen. Das ist schmerzlich für das Regime; der Star erreicht viele junge Russen, und gerade der Rückhalt von Sportlern ist für Putin wichtig.
Vor kurzem behauptete ein früherer Trainer von Panarin in der vom Kreml kontrollierten größten russischen Boulevardzeitung, der Star habe vor zehn Jahren eine Frau geschlagen. Beweise gab es nicht. Doch können ähnliche Vorwürfe im Westen durchaus einen Ruf vernichten. Panarin hatte den Rückhalt seines Clubs, und westliche Journalisten griffen die Behauptungen im berüchtigten Kreml-Blatt nicht auf. Der Vorstoß verpuffte.
Reflexive Kontrolle
Im Fall Nawalny gibt es dagegen echte befremdliche Äußerungen, die außerhalb des russischen Kontexts den vom Kreml gewünschten Reflex auslösen können. Zumal das Narrativ gut "gewaschen" war. So findet sich im Twitter-Profil der Stichwortgeberin-Kolumnistin viel Kryptisches zu nicht festgelegten nationalen und geschlechtlichen Identitäten – und kein Hinweis auf RT. Der Triumph-Tweet von dessen Chefin nach Nawalnys "Canceln" durch Amnesty lässt sich auch als Arbeitsnachweis für den Kreml verstehen.
"Wenn Amnesty sagt, die Kreml-Kampagne hat die Entscheidung nicht beeinflusst, heißt das, der Kreml hat nicht für sie entschieden", hebt Anton Shekhovtsov hervor. "Aber die Kampagne hat sie auf das Problem aufmerksam gemacht, und sie haben reagiert." Das Fachwort dazu, "reflexive Kontrolle", stammt aus dem Geheimdienstjargon: Der Gegner wird zu Handlungen gebracht, die ihm schaden und dem Kreml nutzen.
Auch der Schaden für Amnesty ist groß, die Organisation wird nicht nur von Unterstützern Nawalnys angegriffen, sondern auch von Befürwortern von Demokratie und Menschenrechten. Auch das ist im Sinne des Kremls, der keine Gelegenheit auslässt, Amnesty anzugreifen, die unter anderem den Einsatz geächteter Munition in Syrien anprangert.
Anton Shekhovtsov warnt vor den Folgen, die eine Schwächung der Menschenrechtsschützer für Millionen Bedrängte hätte: "Es geht nicht nur um Russland, sondern um Menschen auf der ganzen Welt, denen Amnesty International eine Stimme gibt."
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.3.2021, Politik / Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.