Nawalny

Nawalny: Gefangen beim bösen Zauberer

Der Dissident zeigt den Mut früher Christen, russischer Märchenhelden und eines radikalen Performancekünstlers

Nach dem Urteil auf der Polizeiwache: Alexei Nawalny vor dem Transport ins Gefängnis

Schon bevor der nach seiner „Nowitschok“-Vergiftung gleichsam auferstandene russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny von Berlin abgehoben hatte, erklärte der liberale russische Politikveteran Leonid Gosman, Russlands Präsident sei unterwegs. Gosman war klar, dass Nawalny womöglich gleich im Gefängnis landen würde, erinnerte aber daran, dass der spätere südafrikanische Präsident Nelson Mandela erst durch seine lange Haftzeit große politische Statur gewonnen habe.

Tatsächlich sei eine so komplexe Umleitungslogistik wie um Nawalnys Flugzeug, das kurzfristig auf einem anderen Moskauer Flughafen landen musste, nur bei ersten Personen des Staates üblich, erläuterte der Luftfahrtexperte Vadim Lukaschewitsch gegenüber der Zeitung Nowaja gaseta. Nawalnyjs Verhaftung an der Passkontrolle folgte dann freilich einem mit epischer Schicksalhaftigkeit vorgezeichneten Szenario.

Der bulgarische Journalist Christo Grozev von Bellingcat, der das Netz von Nawalnys FSB-Beschattern enttarnt hatte, die ihn mutmaßlich auch vergifteten, bekannte, er wäre an seiner Stelle nicht nach Russland zurückgekehrt. Der russische Journalist Maxim Schewtschenko vermutete, Nawalny komme wohl nach Russland, um zu leiden, und verglich das mit Dostojewskis Romanen. Dass Nawalny, der an einem friedlichen politischen Kampf festhält, bewaffnet allein mit seinem Rechtsbewusstsein, seinen Häschern entgegentritt, über deren Brutalität er sich keine Illusionen macht, darin folgt er seiner Mission eines echten Politikers, darin liegt aber auch ein erschütternd frühchristlicher Mut.

Nawalny: „Fürchtet euch nicht“

Bei seiner kurzen Ansprache nach der Landung – Minuten vor seiner Festnahme – sagte Nawalny, er sei glücklich, in Russland zu sein, und fürchte sich nicht. Er appellierte an alle Umstehenden, sich ebenfalls nicht zu fürchten. Die aus dem Evangelium bekannte Formel wiederholte, nachdem er abgeführt worden war, auch Nawalnys Frau Julia gegenüber den ihr im Flughafen zujubelnden Menschen.

Nawalny gleicht aber auch dem Helden des russischen Märchens, der den Kampf gegen den bösen Zauberer aufnimmt, den unsterblichen Kaschtschej, der die Menschen in Stein verwandelt. Der wegen falscher Anschuldigungen mit einer Bewährungsstrafe belegte Korruptionsbekämpfer, der angeblich verhaftet wurde, weil er in der Zeit seines Komas und der Rekonvaleszenz sich nicht regelmäßig bei der Strafvollzugsbehörde gemeldet hatte, geriet gleichsam in einen verhexten Zauberwald.

Das „öffentliche“, dabei keine unabhängigen Journalisten vorlassende Gericht, das ihn direkt in der Polizeiwache zu dreißig Tagen Haft verurteilte, sollte, so mutmaßte Nawalny, die Rechtsverachtung des „Opas im Bunker“, wie er Präsident Putin nennt, demonstrieren und schien tatsächlich aus steinernen Menschen zusammengesetzt. Nun hofft man auf Nawalnys märchenhaften Mix aus Tollkühnheit und Findigkeit, mit der er einen seiner Attentäter dazu brachte, den Tathergang seiner Vergiftung zu erzählen.

Offenbar zum Martyrium bereit

Die das eigene Leben bewusst aufs Spiel setzende Heimkehr Nawalnys ist darüber hinaus auch eine politkünstlerische Megaperformance, bei der das russische Repressionssystem seine inneren Mechanismen und seine stumpfsinnige Grausamkeit offenlegen soll. Wie der 2017 nach Frankreich geflohene Aktionskünstler Pjotr Pawlenski, der sich aus Protest gegen die Verfolgung von „Pussy Riot“ den Mund zunähte und die Tür des Hauptquartiers des Staatssicherheitsdienstes FSB in Brand setzte, um vor dessen Brandgefährlichkeit zu warnen, provoziert er den Unterdrückungsapparat, indem er die von diesem geschürte Angst überwindet und ihm den eigenen Leib ungeschützt darbietet.

Freilich begnügte sich der politische Künstler Pawlenski damit, die auf Einschüchterung beruhende Essenz eines Systems zu entlarven, das sich durch zivilisiertes Dekor tarnt. Dafür wurde er mehrfach festgenommen und zu Ordnungsstrafen verurteilt, das aber in einer von Russen als noch vergleichsweise harmlos charakterisierten Zeit. Der offenbar zum Martyrium bereite Nawalny bekämpft jetzt die konkrete russische Machtpyramide, die sich, da der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit sinkt und der „unsterbliche Zauberer“ Putin an Rückhalt verliert, immer schamloser allein durch nackte Repression verteidigt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: FAZ, 19.1.2021, Feuilleton. Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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