Eurasische Macht und Nachbar Europas

Wie und warum es zur Abwendung Russlands vom europäischen Westen kam

Während die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nach dem Kalten Krieg zunächst noch enger geworden waren, erleben wir zurzeit eine neue Phase der Entfremdung. Sie sollte nicht lediglich als Schwingung zwischen zwei Polen abgetan werden. Da die gegenwärtigen Spannungen einer Unmenge widersprüchlicher Haltungen geschuldet sind, sieht es so aus, als stünden wir vor einer neuen Periode gezielter Spannungen.

Frühere Konzepte eines gemeinsamen europäischen Raums von Lissabon bis Wladiwostok klingen heute wie aus einer anderen Welt, genährt vom Glauben an Fukuyamas „Ende der Geschichte”, einem Konzept für die Zeit nach dem Kalten Krieg, das sich inzwischen als zu schwärmerisch erwiesen hat.

Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hatten sich die bilateralen Beziehungen in eine positive Richtung entwickelt. Berlin positionierte sich als zuverlässiger Fürsprecher für russische Bemühungen hin zu einer Integration in westliche Institutionen und Systeme und die Erschaffung eines „Größeren Europa“ vom Atlantik bis zum Pazifik. Außerdem erwies sich Deutschland in besonderem Maße als einer der wichtigsten Partner für die neu entstehende post-sowjetische russische Wirtschaft.

Russlands vielversprechende Zukunft

In der Tat waren die Aussichten für Russlands Zukunft anfangs vielversprechend: Ende der 1980er-Jahre ermöglichte die Auflösung der UdSSR eine Neuorientierung seiner Position auf der internationalen Bühne, die der nachfolgende Staat Russland erfolgreich fortsetzte.

Russland schloss diverse bedeutende internationale Abkommen ab und half so, eine neue internationale Sicherheitsarchitektur der Nichtverbreitung zu bauen und vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zu initiieren. Diese neue Architektur basierte auf Elementen wie Russlands Unterschrift auf der Charta von Paris, dem Vertrag zu nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF), dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (CFE), dem Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (START I) oder den Helsinki-Abkommen.

Darüber hinaus wurden in dieser neuen Ära beträchtliche Erfolge erzielt, darunter die Denuklearisierung der Ukraine, von Belarus und Kasachstan im Austausch für Sicherheitsgarantien an Russlands Nachbarn. Bis heute sind die Raketenabwehr und die strategische Rüstungskontrolle zwei der wenigen Bereiche, in denen Russland seit Auflösung der UdSSR seinen Supermacht-Status beibehalten hat.

Beitrag aus Oxana Schmies (ed.)
NATO’s Enlargement and Russia
A Strategic Challenge in the Past and Future
ibidem
284 Seiten
Paperback
39,90 Euro
ISBN 9783838214788
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Als Zeichen des guten Willens wurde Russland 1994 die Mitgliedschaft in dem NATO-Programm „Partnerschaft für Frieden“ zwischen NATO-Staaten und Nicht-NATO-Mitgliedern angeboten. Außerdem wurde 1997 die NATO-Russland-Grundakte verabschiedet, die die Beziehungen enger definierte, aber 1999 von Russland aus Protest gegen NATO-Einsätze in Jugoslawien ausgesetzt wurde.

Darüber hinaus wurde Russland ein Mitglied der einflussreichen informellen Gruppe der G7 (G8) und bilateraler USA-Russland-Arbeitsgruppen, die sich mit diversen Themen von Weltraum bis Energie befassen. Diese Verbindungen und der andauernde Dialog zwischen Regierungsvertretern auf beiden Seiten sorgten bis zu einem gewissen Maß dafür, dass man für bevorstehende Stürme gerüstet war.

Jelzins Schocktherapie

Was den wirtschaftlichen Wandel betrifft, erlebte Boris Jelzins Russland eine radikale „Schocktherapie“, die im Wesentlichen von der US-Regierung unter Bill Clinton unterstützt wurde und eine schnelle Privatisierung anstelle eines schrittweisen Übergangsprozesses beinhaltete. Dies führte zu einem tief verankerten Opportunismus, einer Stärkung bereits vorhandener Systeme der Vetternwirtschaft und weit verbreiteter Korruption – alles Herausforderungen, denen ein kaum existentes Rechtssystem und ein unübersichtliches Konzept von Eigentumsrechten nicht gewachsen waren.

Allzu optimistische Reformversuche führten zu einer Dekade des „Wild Ost“-Kapitalismus. Zeitgleich arbeitete die Regierung Clinton an der NATO-Erweiterung. Weder Russland noch die NATO überblickten jedoch die Auswirkungen ihrer Entscheidungen.

Wir müssen aber einräumen, dass Deutschland, wie auch dem Westen im Allgemeinen, im Jahrzehnt nach Auflösung der UdSSR ein klar definiertes strategisches Ziel in Bezug auf Russlands Zukunftsperspektiven fehlte. Gleichwohl war Russland ebenso unfähig, eine solche Vision für sich selbst zu definieren. Der Jelzin-Regierung gelang es zu keinem Zeitpunkt, nationale Interessen zu definieren, da sie ständig zwischen Konfrontation und Kooperation mit dem Westen hin- und herschwankte. Letztlich blieb das post-sowjetische Russland, trotz aller Versuche einer Annäherung, nur ein Kandidat für euro-atlantische Strukturen, der die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft und als voll integrierter Teil der „westlichen Organisationen“ nicht substanziell erfüllen konnte.

Nach Auffassung von Jelzins Stabschef Anatoli Tschubais sah Russland zwar eine einzigartige Chance, sich in europäische Sicherheitsstrukturen zu integrieren. Jedoch ging dieses Momentum angesichts der schrittweisen Osterweiterung der NATO durch mittel- und osteuropäische Staaten, einer Region, die Russland als Teil seines legitimen Einflussbereichs und als „nahes Ausland“ verstand, verloren. Diese Entwicklung muss berücksichtigt werden, will man den weiteren Verlauf der Ereignisse verstehen.

Seit Auflösung der UdSSR wurden diverse Visionen für den post-sowjetischen Raum diskutiert. Für die russische Regierung ist das westliche Konzept von staatlicher Souveränität und Unabhängigkeit, das eine Politik von Annäherung an seine Nachbarstaaten beinhaltet, bis heute schwer zu akzeptieren. Stattdessen werden die ehemaligen Sowjetrepubliken allgemein als „nahes Ausland“ gesehen, einschließlich eines legitimen Einflussanspruchs. Wladimir Lukin, der erste post-sowjetische Botschafter Russlands in den USA, verglich die Beziehungen zwischen Russland und den ehemaligen Sowjetstaaten einst gar mit der Beziehung zwischen New York und New Jersey.

Erniedrigung durch den Westen

Daher kann die Phase, die unmittelbar nach der Auflösung der Sowjetunion folgte, ziemlich unterschiedlich bewertet werden. Einerseits brachte sie Russland die Integration in den Westen sowie die Einführung eines liberaleren Systems mit Marktwirtschaft und demokratischen Institutionen. Andererseits sehen viele Russen diese Periode als Zeit des Chaos, der Armut, Oligarchie und letztlich Erniedrigung durch den Westen. Diese angebliche Haltung westlicher Herablassung, die oft zu Unrecht der Putin-Ära zugeschrieben wird, findet ihren Ursprung tatsächlich bereits in der Zeit Jelzins.

Zweifellos brachte das neue Millennium eine neue Ära in der russischen Politik. Unter Putins Regentschaft schien das souveräne Russland endlich zu einer aufsteigenden Macht von wachsendem internationalem Status zu werden, soweit, dass Russland 2006 Ausrichter des G8-Gipfels in Sankt Petersburg war. Das Land profitierte von einem gemeinhin gestiegenen Lebensstandard, finanziert durch steigende Einnahmen aus Ölgeschäften und gestützt von wachsenden Finanzreserven, die einer umsichtigen makroökonomischen und steuerrechtlichen Politik geschuldet waren.

Als aufstrebender internationaler Player investierte Russland außerdem in engere Beziehungen zu China, Indien und Brasilien. Vor dem Hintergrund dieses Gesamtbilds konnte Präsident Putin seine Machtstellung als starker Führer einer stolzen, aufstrebenden Nation im eigenen Land festigen.

Positive deutsch-russische Beziehungen

Die bilateralen deutsch-russischen Beziehungen entwickelten sich bis 2011 größtenteils positiv. Während Berlin die „Partnerschaft für Modernisierung“ ins Leben rief, welche die wirtschaftliche Entwicklung Russlands und die Modernisierung anderer Zweige der Zivilgesellschaft fördern sollte, entwarf Russland eine Absichtserklärung zur Sicherheit in Europa und unterstützte die deutsche Initiative für einen amtlichen EU-Russland-Ausschuss für Sicherheit und Außenpolitik, die „Meseberger Initiative“, die als Plattform für den Austausch über außen- und sicherheitspolitische Themen und als diplomatisches Forum für den Austausch über fortdauernde Konfliktfelder dienen sollte.

Doch während Putin in seiner Rede im Deutschen Bundestag von 2001 Russlands Wahl eines europäischen Wegs beschwor, zeichneten sich schon Brüche in den bilateralen Beziehungen und in dem Verhältnis Russlands mit dem Westen ab. Der 2002 gegründete NATO-Russland-Rat konnte nur wenig beisteuern, meist weil der Dialog zwischen beiden Seiten schwierig blieb.

Die NATO erwies sich als dauerhaft unfähig, die Kluft zwischen den zunehmend unterschiedlichen Perspektiven Russlands und des Westens zu überbrücken. Für den Westen stellten die fortbestehenden Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion potenziell destabilisierende Sicherheitsrisiken dar und waren dauerhaft Anlass für Streit mit Russland. Der Ausbruch des Kriegs zwischen Russland und Georgien im Jahr 2008 machte die Verwundbarkeit der europäischen Staaten „dazwischen“ besonders deutlich und führte zu einer temporären Unterbrechung des Kontakts auf offizieller Ebene.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der russische Präsident Dmitri Medwedew waren schließlich bemüht, gemeinsame Interessen wiederzubeleben, was zu einer erneuten Kooperation in praktischen Fragen wie Such- und Rettungsdienste, Anti-Piraterie, Drogenbekämpfung in Afghanistan und Terrorabwehroperationen führte. Jedoch blieben die Unterschiede zwischen beiden Seiten ein grundlegendes Hindernis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Putin 2007: neue russische Außenpolitik

Präsident Wladimir Putins berüchtigte Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 war ein deutlicher Wegmarker einer neuen russischen Herangehensweise in der Außenpolitik. Das russische Regime war entschlossen, in Zukunft seine eigene Agenda festzulegen, sich selbst ganz bewusst außerhalb des westlichen Einflussbereichs zu verorten und insbesondere die angebliche Vormachtstellung der USA auf der internationalen Bühne zu verurteilen.

Mit ihrer Militärdoktrin von 2010 wurde der Ton der russischen Regierung zunehmend feindselig. In der Doktrin bezeichnete Russland die NATO als Nummer 1 der externen Bedrohungen seiner inneren Sicherheit. Vor den Wahlen von 2012 behauptete Putin, er hätte Russland vor dem Chaos gerettet und er warb für das Konzept des „Derzhavnost“, was auf dem Glauben aufbaut, Russland sei dazu bestimmt, ein starker Staat und eine große internationale Macht zu sein. Bis 2013 wurde der Westen zunehmend als destabilisierender Faktor auf der internationalen Bühne und gleichzeitig als weniger bedeutungsvolle Macht dargestellt.

Demgegenüber wurde Russland eine einzigartige Rolle in einer multipolaren Welt zugeschrieben. Außerdem würde das Land seine außenpolitischen Prioritäten hauptsächlich nach Asien verorten, konkret in die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) und die Eurasische Wirtschaftsunion. Putin stellte sich „neue Verhaltensregeln“ im internationalen Bereich vor, die jedoch bisher von der russischen Führungsriege kaum konkret definiert wurden.

Die Idee von gemeinsam agierenden „mächtigen regionalen Organisationen“ führt de facto zu einer institutionalisierten und formalisierten Abgrenzung von Interessengebieten für regionale und globale Player, die ein neues Gleichgewicht aushandeln, wobei Russland selbstbewusst seinen Platz an diesem Tisch einfordert. Letztendlich vertritt Moskau diese Sicht nicht wegen seiner engen Verbundenheit mit der internationalen Ordnung selbst, sondern aufgrund seiner Angst vor dem Verlust des Status quo, der ihm der eigenen Auffassung nach zusteht.

Zusammenfassend kann Putins Außenpolitik grob von mehreren zentralen Zielen definiert werden: Zunächst darf keine wichtige internationale Entscheidung ohne russische Beteiligung gefällt werden, wodurch der Status quo im euro-atlantischen Gebiet gewahrt bliebe, was wiederum jeden Versuch einer EU- oder NATO-Erweiterung durch weitere ehemalige Sowjetstaaten unterbinden würde. Des Weiteren die Eindämmung westlicher Versuche zur Förderung von Demokratie oder sogar eines Regimewechsels in Russland oder dessen „nahen Ausland“, sowie die Förderung und Absicherung russischer Wirtschaftsinteressen.

Hyper-Patriotismus und Abwendung vom Westen

Im Laufe der Zeit entwickelte Putins Regierung immer mehr eine Form von Hyper-Patriotismus, die Erfolge in der Außenpolitik nutzte, um heimische Krisen abzufedern, die sie erwiesenermaßen nicht in der Lage war zu meistern. Heute sehen wir uns einem inländischen System gegenüber, das stark auf die Person Präsident Putins zugeschnitten ist und dessen größte Herausforderung es ist, die Interessen von rivalisierenden Akteuren und Oligarchen in dem von ihm geschaffenen System auszubalancieren.

Der Mangel an unabhängigen, autonomen Institutionen sowie die starke Personalisierung des russischen Systems führen zu einer stark systemischen Verwundbarkeit und haben zur Folge, dass die Elite des Landes vor allem ihre Selbsterhaltung zum Ziel hat. Das so geschaffene post-sowjetische System hat zahlreiche negative Konsequenzen, wie eine starke Abhängigkeit von einer Rentenökonomie, eine Wirtschaft, die von internationalen Rohstofferlösen abhängt, Streit über die Verteilung der mangelnden Ressourcen, schwache Rechtsinstitutionen und Korruption, und vor allem ein fehlendes effektives Machtmonopol.

Wir erleben, dass in Putins Russland zwar die unmittelbar Handelnden, aber nie die tatsächlich für politische Attentate verantwortlichen Personen zur Rechenschaft gezogen werden. Dies führt zu dem Schluss, dass eine halb-autorisierte Machtausübung zum Markenzeichen von Putins System geworden ist. Ohne Zweifel ist es ein inhärentes Zeichen von Schwäche, dass niemand zuverlässige Prognosen zu einem Russland nach Putin machen kann, das eines Tages kommen wird.

In Gegensatz zu Putins außenpolitischer Agenda läge es eigentlich im russischen Interesse, seine Integration in euro-atlantische Strukturen der Zusammenarbeit oder, realistischer betrachtet, zumindest ihre permanente Weiterentwicklung zu betreiben. Bedauerlicherweise decken sich die Interessen der aktuellen Regierung jedoch kaum mit den Interessen der Nation, die sie regiert.

Russland zwischen Zentralasien und Europa

Seit Russland begann, sich von seiner europäischen Perspektive abzuwenden, definiert die Regierung das Land eher als eurasische Macht und als Nachbar Europas. In gewisser Weise übernimmt Russland eine neue Vermittlerrolle zwischen dem „neuen Westen“, der heute auch mittel- und osteuropäische Staaten einschließt, die früher zum Ostblock gehörten, und muslimisch dominierten west- und zentralasiatischen Ländern. Bei seinem andauernden Pendeln zwischen beiden Polen schlägt Moskau schon jetzt immer häufiger in Richtung Asien aus.

Das Konzept eines Größeren Eurasiens ist nicht nur eine Idee des Kremls, sondern auch das Ergebnis von Pekings wachsendem Druck auf Russland durch seine Neue-Seidenstraße-Initiative. Gegenwärtig fehlt Russland eine langfristige Perspektive und Strategie im Hinblick auf seinen zunehmend herausfordernden südlichen Nachbarn China.

Die europäischen Interessen im Hinblick auf Russland sind dagegen von gänzlich anderer Natur. Uns muss an einem stabilen und friedlichen Russland gelegen sein, das aufhört, sich systematisch in die innerstaatlichen Angelegenheiten seiner Nachbarn einzumischen, mit einer stabilen, florierenden Wirtschaft. Ein Russland, das seinen traditionellen Beitrag zum kulturellen und intellektuellen Erbe Europas leistet.

Gleichwohl sollten Politiker in Russland und Deutschland nicht vergessen, die langfristigen globalen Trends zu berücksichtigen. In absehbarer Zukunft wird Europa seinen transatlantischen Weg weitergehen, dabei seine historischen Verbindungen nutzen und hoffentlich eine umfassende Strategie finden, um das NATO-Engagement durch europäisches Krisenmanagement in seiner eigenen Nachbarschaft sinnvoll zu ergänzen und so seine eigene Außen- und Sicherheitsagenda für eine post-unilaterale Weltordnung zu definieren.

Die Tatsache, dass Europa gegenwärtig keine führende Rolle bei der Bewältigung von Konflikten auf der internationalen Bühne spielt, ist auch Deutschlands Unwillen geschuldet, ein neues, modernisiertes Verständnis von institutionell integrierter, aber immer noch pragmatischer Machtpolitik zu entwickeln. Als größtes und mächtigstes Mitglied der Europäischen Union ist Deutschland institutionell dazu vorbestimmt, eine Führungsrolle und somit Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft zu übernehmen.

Was tut Europa? Deutschland?

Zahlreiche Faktoren, wie etwa Deutschlands Konzept von militärischer Zurückhaltung, die vorherrschende Akzeptanz der Führungsrolle der USA in Sicherheitsfragen, die Idee eines garantierten Schutzes durch die USA sowie der anhaltende Unwille der europäischen Nachbarn, Deutschlands besondere Rolle anzuerkennen, führen zu einem fast unbeweglichen Konzept von Selbstbeschränkung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Außerdem mögen US-Präsidenten Deutschland zwar auffordern, seinen Haushaltsverpflichtungen im Hinblick auf die NATO nachzukommen, aber gleichzeitig ist es unwahrscheinlich, dass die USA ein allzu selbstbewusstes Europa begrüßen würde, das seine eigenen Interessen unter deutscher oder deutsch-französischer Führung definiert. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass Deutschland und Frankreich für europäische Wirtschaftsinteressen plädieren, dabei aber ihre militärische Loyalität gegenüber Washington nicht aufgeben werden.

Wie Bundeskanzlerin Angela Merkel es ausdrückte, will und muss Europa in dieser schwierigen Umgebung seine Werte überzeugender umsetzen. Um dies zu erreichen, müssen wir unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ein zuverlässiger Partner in der westlichen Werte- und Interessengemeinschaft sein.

Angesichts der Herausforderungen, die Russland darstellt, versteht Deutschland das russische Regime zunehmend als Bedrohung für die europäische Sicherheit und unterstützt damit das kollektive Engagement der NATO für eine Stärkung der Ostgrenze. Diese Entwicklung wurde durch das russische Verhalten in der Ostukraine seit 2014 zusätzlich katalysiert, wobei Deutschland sich entschlossen auf die Seite seiner NATO-Partner stellte.

Darüber hinaus kam hier die traditionelle Verurteilung von militärischen Angriffen auf europäischem Boden und insbesondere Aggressionen gegen das Prinzip der territorialen Integrität zum Tragen. Das neue Image von Russland wird derzeit durch schockierende Ereignisse wie die kaum verhohlenen Versuche politischer Attentate gestärkt, etwa der Fall Skripal, der Tiergarten-Mord oder der Nawalny-Mordversuch.

Was wir jetzt tun können

Die größte Herausforderung dabei, zwischen Russland und Europa eine von beiden Seiten akzeptierte europäische Sicherheitsstruktur zu etablieren, ist momentan der Mangel an gegenseitigem Verständnis und Vertrauen. Darüber hinaus wird die Vertrauensbildung durch institutionelle oder wirtschaftliche Zusammenarbeit mit einem zunehmend unberechenbaren russischen Regime, das sich vor allem durch Willkür auszeichnet, immer schwieriger. Daher sind signifikante Verbesserungen in den bilateralen Verbindungen aller Wahrscheinlichkeit nach erst zu erwarten, wenn die Zeit für einen Machtwechsel und so ein Auftauen der Beziehungen ansteht.

Ungeachtet dieser Herausforderungen sollten deutsche und europäische Sicherheitsinteressen beinhalten, dass alle möglichen Kommunikationskanäle mit Russland zumindest auf minimaler Ebene offen bleiben, um vorherige Bemühungen wie jene um vertrauensbildende Maßnahmen für konventionelle Rüstungskontrolle und Verifikationsregelungen für eine nukleare Abrüstung fortführen zu können.

Abgesehen davon müssen wir uns darauf konzentrieren, die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich zwischen EU und der NATO zu ermöglichen und zu stärken und ausreichend Durchsetzungs- und Verhandlungsstärke zu entwickeln, um von der russischen Regierung als erstzunehmender Verhandlungspartner wahrgenommen zu werden.

In Zeiten des wachsenden Wettbewerbs in der Außenpolitik brauchen wir ein erneuertes deutsches Bekenntnis zur NATO, um die Stabilität in Osteuropa zu festigen und die Möglichkeiten für das russische Regime einzuschränken, das Gebiet zu destabilisieren.

Wir müssen uns weiter bemühen, die europäischen Fähigkeiten für Krisenmanagement in der europäischen Nachbarschaft zu verbessern und innerhalb der NATO und der EU entsprechende Werkzeuge zu entwickeln, die sich ergänzen. Europäische Sicherheit und Stabilität braucht beide Elemente: Verteidigungsfähigkeit und Krisenmanagement.

Mit Blick auf die Amtszeit von Joe Biden als US-Präsident ist Deutschland gut beraten, eine realistische Vorstellung von transatlantischer Zusammenarbeit und ihren Veränderungen im 21. Jahrhundert zu bewahren, wobei wir uns auf die Aufgabe konzentrieren sollten, unsere Sicherheitskapazitäten strategisch zu verbessern und dadurch unser eigenes Engagement für multilaterale Zusammenarbeit zu zeigen.

Dies schließt eine starke Entschlossenheit nicht aus, die Beziehungen zu Russland zu verbessern, besonders in den Bereichen Rüstungskontrolle und ‑verifikation, Klimawandel und in unserem gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus.

Daher sollten wir uns auf die Verbesserung der Sicherheitskoordination innerhalb Europas sowie die Pflege transatlantischer Beziehungen konzentrieren, um unsere eigene Stärke auf sinnvolle und wissenschaftlich fundierte Art und Weise zu stärken.

Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Russland und Europa nicht nur geografisch, sondern auch durch gemeinsame Herausforderungen verbunden sind. Abgesehen von Migration und Klimawandel werden sich beide Seiten auch zunehmend mit dem Machthunger Chinas auseinandersetzen müssen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen Oxana Schmies' Buch "NATO's Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future". Übersetzung aus dem Englischen von Ursula Haberl.

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