Dumawahlen

Dumawahlen? Wir haben keine Wahl

Seriöse Kandidaten werden durch Strafprozesse ausgeschaltet, die russische Gesellschaft verfällt in Depression

Dumawahlen 2021
Kandidatin für Einiges Russland: Irina Belykh

Seit den Verfassungsänderungen des vergangenen Jahres ist es selbst den loyalsten, geduldigsten und an Politik desinteressierten Bürgern klar, dass unser Staat ein Simulacrum ist. Lüge und Theaterspiel sind allumfassend und reichen von der Bezeichnung des Staats (einer Föderation, die keine ist) bis zur politischen Struktur, die aufgehört hat, eine Demokratie zu sein, bevor sie richtig angefangen hat.

Doch alle, von unserem ewigen Präsidenten bis zu seinen unglückseligen Wählern, tun, als seien die Wahlen, die Gerichte, die Ordnungshüter und der Journalismus echt. Und jeder, der versucht, auf die objektive russische Wirklichkeit aufmerksam zu machen – die wachsende Zahl politischer Gefangener, die Polizeigewalt, die Erfindung von Straftaten in Bezug auf Oppositionelle, die gefügigen Richter, die außer Rand und Band geratenen, Straffreiheit genießenden Silowiki, wie die gewalttätigen Ordnungshüter genannt werden –, der riskiert Hausdurchsuchungen, Geldstrafen, Festnahme, Haft, Emigration, vielleicht sogar sein Leben.

Darüber, dass Russland rasant in den Autoritarismus abgleitet (der weiterhin verschleiert, hybrid und leutselig daherkommt), diskutiert man bei uns seit vorigem Sommer, als Putins Amtszeiten annulliert wurden, sodass er erneut antreten kann, und als die friedliche belarussische Revolution niedergeschlagen und Alexei Nawalny vergiftet wurde. Es war der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Seither werden anfallsartig immer neue repressive Gesetze verabschiedet, die Reste freier Medien, Bürgerinitiativen und politischer Opposition verboten und Menschen immer öfter eingesperrt.

Überall „ausländische Agenten“

Neben juristischen Personen können nun auch physische Personen zu „ausländischen Agenten“ werden – ein unangenehmer „Ehrentitel“, der Gefängnis und andere Strafen nach sich zieht. Beide Kategorien werden in einer ständig wachsenden Liste erfasst. Außerdem gibt es ein neues Gesetz, das die sozialen Netzwerke verpflichtet, Inhalte zu blockieren, die „Respektlosigkeit gegenüber der Gesellschaft, dem Staat und der Verfassung Russlands“ zum Ausdruck bringen. Russen dürfen, egal an welchem Ort der Welt sie sich befinden, nun nichts mit sogenannten „unerwünschten Organisationen“ zu tun haben – was das genau ist, wird Ihnen freilich kein Duma-Abgeordneter erklären können. Klar ist nur, dass diese Organisationen „eine Bedrohung für die Grundlagen der Verfassung der Russischen Föderation, für die Verteidigungsfähigkeit oder Sicherheit des Staates“ darstellen sollen und gnadenlos blockiert werden (wie auch die Websites, die diese Inhalte teilen).

Dazu zählen inzwischen mehr als vierzig Organisationen, darunter das „Kommando 29“ – eine informelle Rechtsschutzvereinigung von Juristen und Journalisten, die der wachsenden Abschottung des Staates nach außen entgegenwirkten. Die Zahl 29 bezieht sich auf den nicht funktionierenden Artikel 29 der Verfassung der Russischen Föderation über die Freiheit des Worts, der Presse und des Zugangs zu Informationen.

Unter dem Druck von Staatsanwaltschaft und der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor löste die Vereinigung diesen Sommer sich selbst auf. Sie vernichtete ihr gesamtes Archiv und riet russischen Bürgern, sämtliche Links und Reposts zu ihren Materialien zu löschen, da dies als Beteiligung an der Tätigkeit einer „unerwünschten Organisation“ gewertet werden könnte.

Weiterleitung ist gleich Beteiligung, und eine Tatsachenfeststellung – etwa der Satz „ich gehe zu der Demo“ – ist dasselbe wie ein Aufruf. Dieser Bruch mit der Logik und das linguistisch Absurde daran (denn „ich tue das“ ist nicht dasselbe wie „tut das“ oder „ich rufe dazu auf, das zu tun“) fanden sich in der russischen Rechtsprechung schon früher, als eine Art Versuchsballon. Nun wird dieser Paragraf überall angewendet.

Die Paranoia des Staatschefs und seiner Silowiki

Zudem muss seit diesem Jahr aufgrund von Änderungen im Bildungsgesetz jegliche Veranstaltung, die sich der „Verbreitung von Wissen, Kenntnissen, Fertigkeiten und Werteordnungen“, also der Aufklärung widmet, mit den entsprechenden Organen der Staatsmacht abgestimmt werden. Wie das genau vonstattengehen soll, weiß bislang niemand so genau, doch es bedeutet, dass jeder Organisator einer Meisterklasse oder Vorlesung jetzt zumindest mit bürokratischen Hindernissen rechnen muss. Wie im Fall anderer repressiver Gesetze wird dieses Damoklesschwert willkürlich strafen, also weniger laut Gesetz, sondern eher nach Gutdünken.

Diese auf die Abschottung Russlands vom internationalen Recht und internationalen „Einfluss“ zielende Zensur ist wie eine Paranoia, die vom Staatschef und seinen Silowiki ausgeht. Putin scheint allen Ernstes zu glauben, der Westen plane, sich in die bevorstehenden Wahlen in Russland einzumischen (offenbar ist das auch eine Antwort auf die amerikanischen Anti-Trump-Vorgänge rund um die Einmischung Russlands in die dortigen Wahlen). Dass der kollektive Westen Russland erniedrigen und seine Siege annullieren wolle, impliziert ferner die ständige Glorifizierung des Sieges von 1945. Charakteristisch dafür war die jüngste Äußerung des russischen Außenministers Sergei Lawrow: „Stalin als Hauptübeltäter anzugreifen und in einen Topf zu werfen, was er vor, während und nach dem Krieg getan hat – das alles ist Teil des Angriffs auf unsere Vergangenheit und auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs.“

Ernsthafte Kandidaten werden ausgeschlossen

Da aber keine echten Wahlen stattfinden, gibt es auch nichts, in das jemand sich einmischen könnte. Halbwegs ernst zu nehmende Kandidaten für die Duma wurden nicht zugelassen:

Die Philologin und Politikerin Julia Galjamina bekam eine Bewährungsstrafe aufgrund des sogenannten „Dadin-Paragrafen“, wonach Ordnungswidrigkeiten wie die Beteiligung an friedlichen Mahnwachen, wenn sie sich wiederholen, zur Straftat werden.

Der Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow floh nach Hausdurchsuchungen und nach Androhung eines Strafverfahrens ins Ausland.

Die Nawalny-Mitstreiterin Ljubow Sobol emigrierte – sie war zu einem Jahr „Besserungsarbeit“ verurteilt worden, weil sie den Major, der an Nawalnys Vergiftung beteiligt war, an seiner Wohnungstür aufsuchte.

Dem Liberalen Lew Schlossberg wurde seine Registrierung als Kandidat wieder entzogen, da er angeblich an der Organisation einer der Demos im Winter beteiligt war.

Nach der skizzierten absurden Logik gelten alle, die in den sozialen Netzwerken eine Demo erwähnen oder ihren Ort und Zeit teilen, auch als ihre Organisatoren. Damit sich die verbliebenen unabhängigen Kandidaten nicht profilieren, werden sie bei ihren Treffen mit den Wählern schikaniert, ihre Werbematerialien werden vernichtet. In Wahlkreisen, in denen das Gespenst der Konkurrenz und Alternative umgeht, tun die Behörden ihr Bestes, damit das Wahlvolk möglichst wenig über die Wahlen erfährt. Hauptsache, das Ganze verläuft still.

Was auch deshalb gelingt, weil allein in diesem Sommer die Zahl der „ausländischen Agenten“ unter den Medien wächst. Das letzte Opfer war der Internetkanal TV Rain. Außerdem blockierte Roskomnadsor unter anderen die von Michail Chodorkowski unterstützten MBCh Media und Open Media.

Als einzige Möglichkeit, jemanden ins Parlament unseres Landes zu bringen, der für die Freiheit und das Recht steht, die Wahrheit zu sagen, bleibt, für Kandidaten der Partei Jabloko zu stimmen. Deren früherer Vorsitzender Alexei Jawlinski hat sich durch seine kritischen Aussagen über Nawalny in den letzten Monaten freilich in einen Buhmann verwandelt, was die Sache kompliziert.

Die Vergiftung und Verhaftung Nawalnys, die folgenden Proteste und massenhaften gerichtlichen Abstrafungen, die von der Gesellschaft kaum reflektiert hingenommen wurden, sodann die Zerschlagung von Nawalnys Fonds zur Bekämpfung von Korruption, der zur extremistischen Organisation erklärt wurde – sind der Kern dieser Entwicklungen. In diesem Jahr gab es Tausende Prozesse wegen Ordnungswidrigkeiten, Dutzende Strafsachen gegen Gruppen oder Einzelpersonen, die friedlich für Nawalny protestierten oder für andere politische Gefangene auf die Straße gingen. Politische Prozesse sind in Russland so alltäglich geworden, dass nicht einmal mehr die Handvoll Leute, die man bei uns Zivilgesellschaft nennen kann, das Schicksal aller Verurteilter verfolgt, wie es noch vor zwei Jahren der Fall war, nach den Moskauer Protesten und den darauf folgenden Prozessen von 2019.

Russland auf dem belarussischen Weg

Junge Leute werden ohne Bewährung zu Haftstrafen in Straflagern verurteilt, zu drei, vier oder fünf Jahren. Weil sie im Winter und im Frühjahr auf friedlichen Spaziergängen die Freilassung von politischen Gefangenen gefordert hatten, weil sie vor dem Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ standen, wo Nawalny inhaftiert war, weil sie darüber in den sozialen Netzwerken schrieben. Und erstaunlicherweise wird weder für sie noch für Nawalny in unserem Lande hörbar Sturm geläutet. Ich ertappe mich dabei, dass ich selbst nicht mehr alle ihre Namen kenne – es sind so viele, und all das ist entsetzlich deprimierend.

Die schwächer werdenden Reaktionen der Zivilgesellschaft markieren eine Periode der Depression, der Einsicht, dass fast nichts mehr möglich ist – keine friedlichen Mahnwachen, keine Recherchen, keine aufklärerischen Vorlesungen. Die Erkenntnis greift um sich, dass Russland immer schneller auf dem belarussischen Weg voranschreitet und dabei die Fehler von Lukaschenko zu vermeiden sucht. Die kurze, intensive Periode der Solidarität und der vielfältigen Aktivitäten in den großen Städten wurde abgelöst durch Ratlosigkeit, was zu tun ist. Denn selbst harmloseste Einzelmahnwachen haben drakonische Strafen und Verurteilungen zur Folge, die traurige Routine geworden sind.

So geraten die Wahlen kurz vor den Wahlen geradezu in Vergessenheit. Das ähnelt der diffusen Wahrnehmung der Corona-Pandemie. Die offizielle Statistik behauptet, die Übersterblichkeit in Russland liege bei mehr als fünfzig Prozent, in einigen Regionen wie in Nowosibirsk, Burjatien, Irkutsk und im Altai erreicht die Übersterblichkeit beinahe hundert Prozent. Doch der Koordinierungsstab für Covid-19 und der Rechnungshof lügen dreist, sie vermelden niedrigere Zahlen und verzeichnen etwa für das vergangene Jahr 313 000 Tote statt einer halben Million.

Kaum eine Datenquelle stimmt mit einer anderen überein. So improvisiert in unserer Imitationsgesellschaft jeder Einzelne nach Kräften, in dem Wunsch, es dem ungreifbaren Regisseur möglichst recht zu machen.

Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 6.9.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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