Ein Buch mit vielen Kapiteln
Deutschland und Russland verbindet eine Geschichte, in der sich Hell und Dunkel, Faszination und Schrecken mischen
Nimmt man die offizielle Staats- und Kriegsgeschichte, waren Russen und Deutsche sowohl Verbündete wie erbitterte Gegner. Der Zar und Preußen paktierten bei der Teilung Polens und besiegten Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig. Ein Jahrhundert später standen sich Deutsche und Russen im Ersten Weltkrieg gegenüber – ein Vorspiel zu dem Kampf auf Leben und Tod, der mit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 begann und mit der Roten Fahne auf dem Reichstag endete.
Bilanz des Schreckens
Die Grausamkeiten, die SS und Wehrmacht in diesem Vernichtungskrieg begingen, erschüttern noch heute. Allein bei der Hungerblockade gegen Leningrad starben mehr als eine Million Menschen.
Als das Dritte Reich kapitulierte, waren 27 Millionen sowjetische Zivilisten und Soldaten tot – Russen, Ukrainer, Weißrussen, Juden und andere Angehörige des Vielvölkerstaats. An die vier Millionen Soldaten der Wehrmacht fielen an der Ostfront oder kamen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft um. Millionen deutscher Zivilisten flohen aus den von der Roten Armee eroberten Ostgebieten oder wurden nach Kriegsende vertrieben. Hunderttausende Frauen wurden von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Während die USA nach Kriegsende Westdeutschland mit dem Marshall-Plan wieder auf die Füße halfen, wurden Industrieanlagen aus Ostdeutschland als Reparationsleistung in die Sowjetunion abtransportiert.
Angesichts dieser Bilanz des Schreckens grenzt es an ein Wunder, dass das deutsch-russische Verhältnis nicht durch anhaltende Bitterkeit geprägt ist. Das Gegenteil ist der Fall – es gibt viel gegenseitige Sympathie und den Wunsch nach freundschaftlicher Zusammenarbeit. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Frühjahr 2018 wünschten sich 58 Prozent der Deutschen eine Annäherung an Russland – besonders hoch war dieser Wunsch bei Anhängern der AfD, der Linken und in Ostdeutschland. Einer anderen Umfrage vom November 2019 zufolge wollen 66 Prozent der Deutschen eine engere Zusammenarbeit mit Russland. Nur 39 Prozent halten die Beziehungen zu den USA für wichtiger als die zu Moskau.
Augen zu und durch?
Dass Wladimir Putin Schritt für Schritt ein neues autoritäres Regime errichtet hat, stört den Wunsch nach Annäherung ebenso wenig wie die militärische Intervention in der Ukraine, die Annexion der Krim und die russische Waffenbrüderschaft mit dem syrischen Diktator Assad. Auch der groß angelegte Hackerangriff gegen den Deutschen Bundestag, die Mordanschläge gegen Putin-Gegner in Großbritannien und zuletzt im Berliner Tiergarten rufen keine große Empörung hervor.
Gegen die israelische Anti-Terror-Operation im Gaza-Streifen und den Irak-Krieg der USA gab es Protestaufrufe und Demonstrationen – der russische Bombenkrieg in Syrien oder der Abschuss des Passagierflugzeugs MH-17 über der Ostukraine werden achselzuckend hingenommen. Der Wunsch nach Verständigung mit Russland sieht großzügig über Menschenrechtsverletzungen und aggressives Großmachtgebaren des Kremls hinweg. Woher rührt diese deutsch-russische Gemengelage? Eine Erklärung in fünf Thesen:
1. Furcht vor einem neuen Krieg
Nach den Schrecken des zweiten Weltkriegs fürchtet die große Mehrheit der Deutschen nichts mehr als einen erneuten Krieg mit Russland. Wir wollen um keinen Preis in Konflikte verwickelt werden, die in einen bewaffneten Zusammenstoß führen könnten. Weil der Kreml das weiß, hat er keine Hemmung, militärische Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen, ob in der Ukraine oder in Syrien.
2. Historische Schuld gegenüber Russland
Während man die deutschen Untaten gern mit dem „angloamerikanischen Bombenterror“ aufrechnet, fühlen sich viele Deutsche gegenüber Russland in einer historischen Schuld. Die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten werden vielfach allein Russland zugerechnet. Dabei kämpften in der Roten Armee Soldaten vieler Nationalitäten; gemessen an ihrer Bevölkerungszahl hatten Polen, Weißrussland und die Ukraine die größte Zerstörung und die meisten Toten zu beklagen. Im Unterschied zu Russland können sie aber nicht mit der Empathie der deutschen Öffentlichkeit rechnen.
3. Der Mythos von der Seelenverwandtschaft
Tolstoi und Goethe, Beethoven und Tschaikowsky, Dostojewski und Nietzsche, Bolschoi und Balalaika – wer von deutsch-russischer Geistesverwandtschaft schwärmt, beruft sich gern auf Literatur und Musik. Über Jahrhunderte kompensierten die gebildeten Schichten beider Länder ihre politische Rückständigkeit durch die Huldigung an Kunst und Kultur. Romantik statt Moderne, Seelentiefe statt Kommerz, Gefühl statt kalter Rationalität – eine Mischung aus Sentimentalität und Brutalität grenzte Russen wie Deutsche gegen die westliche Zivilisation ab.
Diese Tradition wirkt unterschwellig fort. In Russland geht der alte Kampf zwischen Liberalen und Antiliberalen weiter, und auch in Deutschland ist der „lange Weg nach Westen“ keineswegs unumstritten.
4. Imperiale Tradition
Das Deutsche Reich wie Russland waren europäische Großmächte. Wir sollten uns nicht einbilden, dass diese Denkweise heute vollends verschwunden ist. In Russland trauern viele dem sowjetischen Imperium nach, und in Deutschland hat sich die Vorstellung gehalten, dass europäische Stabilität auf einem Arrangement mit Russland aufbauen muss – notfalls über die Köpfe der kleineren mittel-osteuropäischen Staaten hinweg. Schröders „Achse Paris-Berlin-Moskau“ klingt in den Ohren von Polen, Balten und Ukrainern nach dem altbekannten Pakt der Großmächte zu ihren Lasten.
5. Traum vom gemeinsamen Wirtschaftsraum
Seit mehr als hundert Jahren träumen Teile des deutschen Großkapitals von einem gemeinsamen deutsch-russischen Wirtschaftsraum. Deutschland sollte Maschinen und hochwertige Industriegüter liefern, Russland die Rohstoffbasis für die deutsche Industrie sichern. Das Nordstream-Projekt steht in dieser Tradition. Größer gedacht geht es um die Idee eines eurasischen Wirtschaftsraums „von Lissabon bis Wladiwostok“, die nicht nur in Russland als Gegenprojekt zur transatlantischen Ausrichtung Europas gesehen wird.
Partnerschaft nur mit gemeinsamen Werten und Regeln
Damit wir uns recht verstehen: Eine strategische Partnerschaft mit Russland ist aus vielen Gründen wünschenswert. Sie kann aber nur aus gemeinsamen Werten und Regeln erwachsen, wie sie 1990 in der Pariser Charta für ein neues Europa vereinbart wurden: Demokratie und Menschenrechte, Gewaltverzicht und gleiche Souveränität aller europäischen Staaten. Solange die russische Führung den entgegengesetzten Weg einschlägt, braucht es eine Politik, die zur Kooperation bereit ist, aber den Konflikt nicht scheut, wo es um die Verteidigung europäischer Werte und Interessen geht.
Putin ist nicht Russland. Unsere Sympathie gilt dem Russland von Andrej Sacharow, Anna Achmatowa und Lew Kopelew, der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja und Arsenij Roginski, dem Gründer der Menschenrechtsorganisation Memorial. Wer Russland als Partner will, sollte die vielen Bürgerinitiativen, die kritischen Köpfe und mutigen Journalisten unterstützen, die sich für ein demokratisches und europäisches Russland einsetzen. Die Zeit des Wandels wird kommen.
Dieser Artikel ist in leicht gekürzter Version am 15. Oktober 2020 in einem Sonderheft der Zeitschrift „Super Illu“ erschienen.