„Der Krieg nimmt uns die Besten“

Die junge, städtische Elite stirbt im Ukraine-Krieg, aber fast niemand will Russland nachgeben

von Gerhard Gnauck
Eichenblätter Symbol für Tote im Krieg
Gedenken an tote Soldaten der Ukraine auf Facebook und Twitter: „Ruhm dem Helden! Ruhe in Frieden.“

Facebook „ist für uns heute ein Schwarzes Brett voller Todesanzeigen“, sagt Olena Haluschka, eine bekannte Aktivistin aus Kiew. Sie ist derzeit in Polen unterwegs, spricht in flüssigem Englisch über Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung, was ihr Fachgebiet ist. Erst wenn man sie auf den Krieg anspricht, zeigen ihre unruhigen Hände, wie sehr die Lage die junge Frau bedrückt. „Jedes Mal, wenn ich in die sozialen Medien gehe, sehe ich: Dieser ist tot, jener wird beerdigt, ein dritter ist verwundet worden.“

Das liegt nicht nur daran, dass sie auf Facebook viele Freunde hat. Der Tod trifft auch Freunde im eigentlichen Sinn des Worts. „Ich war früher bei der Organisation Plast, den Pfadfindern“, erzählt Haluschka. „Aus unserer Organisation sind seit Februar elf Personen gefallen. Danach habe ich in Kiew an der Akademie für Führungskräfte studiert. Von ihren Absolventen sind vier junge Männer gefallen. Junge Leute, die die neue Elite bilden und dieses Land verändern sollten.“

Russlands Krieg ging Mitte April in seine zweite Phase. Die erste, die manche Beobachter in der Ukraine spöttisch „Putins Blitzkrieg“ nennen, war mit einer russischen Niederlage zu Ende gegangen: Aus dem besetzten Streifen im Norden von Tschernobyl bis Charkiw mussten die Russen wieder abziehen; einen vergleichbaren Streifen im Süden konnten sie halten.

Die zweite Phase wurde – zumindest für die Ukrainer – verlustreicher als die erste. Sie war der Versuch, die gesamte Donbass-Region, also das Donezker und das Luhansker Verwaltungsgebiet, zu erobern. Das ist den Russen auch nach Monaten größter Anstrengung bislang nur im Luhansker Gebiet gelungen.

Der Preis, den die Ukraine für die Eindämmung der Invasion zahlt, ist mittlerweile in die Höhe geschnellt. Immer öfter hat es nun auch Angehörige der städtischen Eliten der Metropolen getroffen.

„Verflucht seien die Besatzer“

Zum Beispiel die vier Absolventen aus Kiew. Ende Juni würdigte die Führungsakademie einen Gefallenen auf Twitter: „Semen Oblomej hat sein Leben für Freiheit und Zukunft der Ukraine gegeben.“ Er habe an der Befreiung von Butscha teilgenommen, das durch die Gräueltaten russischer Soldaten bekannt geworden ist, und später im Donbass gekämpft. „Ruhm dem Helden! Ruhe in Frieden.“

Der Twitter-Eintrag zeigt den Toten: einen Jungen im karierten Hemd mit Kopfhörern in den Ohren. Dazu eine Kerze.

Der Gefallene, dessen Tod in den vergangenen Wochen die größte Erschütterung auslöste, war der 24 Jahre alte Aktivist Roman Ratuschnyj. „Der Krieg nimmt uns die Besten“, hieß es in den Medien.

Ratuschnyj hatte ein Jurastudium hinter sich und eine Kandidatur für den Kiewer Stadtrat auf der Liste der proeuropäischen UDAR-Partei des Bürgermeisters Vitali Klitschko. Als im Februar der Krieg begann, meldete er sich freiwillig zur Armee.

Am 9. Juni geriet seine Einheit in der Ostukraine in einen Hinterhalt, Ratuschnyj fiel. Die Kiewer Historikerin Anna Kaluger schrieb, sein Tod sei „ein Schlag, der einer ganzen Generation den Atem stocken lässt“.

Dem häufigen Luftalarm zum Trotz wurde Ratuschnyj auf seinem letzten Weg durch Kiew von hunderten Mitbürgern begleitet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen widmete im Juli den ersten Absatz einer Rede dem Gefallenen: „Vor einem Monat ist ein junger ukrainischer Held auf dem Schlachtfeld gestorben. Doch Ratuschnyjs Träume leben weiter.“

Seitdem hat es auf Facebook und Twitter immer wieder Einträge über Gefallene gegeben. Waren es in den ersten zwei Kriegsmonaten vor allem Berufssoldaten, die den Tod des sprichwörtlichen „Unbekannten Soldaten“ starben, meldeten jetzt immer mehr Intellektuelle, Journalisten, Aktivisten und weitere Angehörige der städtischen Mittelschicht den Tod eines Bekannten, eines Freundes oder Verwandten, der sich erst nach der großflächigen russischen Invasion zum Dienst gemeldet hatte.

Zum Beispiel Bohdana Schewtschenko, die sich auf Twitter als „Fotografin, Journalistin, digitale Marketing-Managerin“ präsentiert. Sie betrauerte im Juli ihren 33 Jahre alten Bruder Jewhen Olefirenko, Kriegsname „Elvis“. Gestern Abend verschollen, „last seen yesterday at 18:14“, steht in einem Posting neben letzten gemeinsamen Fotos.

Einer der letzten bekannteren Gefallenen war Ende Juli der Dichter und Liedermacher Glib Babitsch. Als sein Tod gemeldet wurde, kommentierte der Politologe Andrij Smolij auf Facebook: „Verflucht seien die Besatzer und Terroristen.“

Befehl ist Befehl und wird ausgeführt

Dass seit Mai viele Menschen aus dem Milieu der aktiven Großstadtbürger sterben, liegt offenbar daran, dass zunehmend Einheiten aus dem ganzen Land in die verlustreichen Kämpfe im Donbass geschickt wurden. Darunter auch die oft erst kurz vor dem Krieg entstandenen Einheiten der Territorialverteidigung, die zwar in erster Linie dem unmittelbaren Heimatschutz dienen sollen, aber laut Gesetz auch in andere Regionen verlegt werden dürfen.

Die Territorialverteidigung war in den Städten geradezu das Auffangbecken für Männer und Frauen zwischen 18 und 60 Jahren, die zwar keinerlei militärische Erfahrung hatten, aber nach den Erfahrungen mit russischen und prorussischen Kämpfern im Donbass seit 2014 jetzt zur Eindämmung der russischen Armee unbedingt „etwas tun“ wollten.

Wie das konkret aussah, ist etwa in einem Video zu sehen, das der Journalist Jurij Butusow auf seinem Youtube-Kanal „ButusowPlus“ gestellt hat. Butusow war vor dem Fall der Stadt Sewerodonezk im Donbass unterwegs und traf nahe der Front einen alten Bekannten. Das war der erfahrene Soldat Iwan, Kriegsname „Museum“, der Kommandeur einer Kompanie der Territorialverteidigung aus dem Kiewer Innenstadtbezirk Petschersk ist.

Niemand habe erwartet, erzählt Iwan, plötzlich hunderte Kilometer weiter ins Donbass verlegt zu werden. „Aber Befehl ist Befehl und wird ausgeführt.“ Unter seinen Soldaten seien Familienväter mit drei Kindern, die laut Gesetz nicht an die Front müssen und sogar, anders als die Mehrheit der Männer, das Land verlassen dürfen. „Aber sie haben darauf bestanden, zu kämpfen.“

Iwan bittet im Video inständig um mehr Soldaten; weitere Bürger sollten sich zum Dienst melden. „Manche meiner Jungs haben vor drei Wochen noch nie eine Waffe in Händen gehalten.“ Ja, es habe Tote gegeben in seiner Kompanie, manche Todesfälle seien auch der mangelhaften Ausbildung geschuldet.

Die Lage sei schwierig. „Die Russen sind Profis. Sie kämpfen sehr gut. Aber auch wir lernen. Und wir schlagen zurück.“ Es ist beklemmend, dem etwa 40 Jahre alten Mann zuzusehen, wie er zunehmend nervöser wird und seine Zigarette zwischen den Fingern knetet, während der Geschützdonner immer lauter wird.

Kaum jemand will Verhandlungen

Dass beide Kriegsparteien jeweils eine fünfstellige Zahl von Soldaten verloren haben (für die Ukraine kommen noch mindestens so viele zivile Opfer hinzu), wird inzwischen kaum noch bezweifelt. Mitte Juni nannte ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky die Zahl von etwa 10 000 gefallenen Ukrainern realistisch. Damals bezifferte Kiew seine Gefallenen auf 100 bis 200 pro Tag.

In einem Interview für das Wall Street Journal vom 22. Juli sprach Selensky dann von 30 pro Tag; da hatten aus dem Ausland gelieferte Mehrfachraketenwerfer bereits ihre Wirkung gezeigt und die bisherige Übermacht der russischen Artillerie zumindest eingedämmt. Im Krieg kommen auf einen toten Soldaten in der Regel zwei bis drei Verwundete, sagen Fachleute. So sieht man inzwischen auch in den Städten der Ukraine mehr junge Männer, denen Beine oder Arme amputiert wurden. Dass Selensky hin und wieder konkrete Zahlen nannte, wirkte fast so, als wolle er die Bevölkerung auf einen Rückzug an manchen Frontabschnitten vorbereiten.

Ausländische Beobachter, die im Land unterwegs sind, finden jedoch kaum Menschen, die an eine Verhandlungslösung glauben und Zugeständnisse an Russland wollen. Ende Juli hat eine Untersuchung des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) deutlich gemacht: Ein großer Teil der Bevölkerung, von der sechs Millionen ins Ausland geflohen und weitere 4,5 bis sieben Millionen im Inland auf der Flucht sind, will offenbar Härte gegenüber den Angreifern.

Um es genau zu sagen: 84 Prozent der im Inland telefonisch Befragten stimmten folgender Aussage zu: „Unter keinen Umständen sollte die Ukraine auf irgendwelche ihrer Gebiete verzichten, auch wenn dadurch der Krieg länger dauern und Gefahren für die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit entstehen sollten.“ Nur 10 Prozent neigten zu der gegenteiligen Aussage, die als Alternative angegeben war: „Für die schnellstmögliche Erlangung eines Friedens und der Wahrung ihrer Unabhängigkeit kann die Ukraine auf einige ihrer Gebiete verzichten.“

Im Mai war die Stimmenverteilung mit 82 zu 10 Prozent sehr ähnlich gewesen. Auch die Aufschlüsselung nach regionaler sowie ethnischer und sprachlicher Zugehörigkeit (ukrainisch/russisch) ergab kein wesentlich anderes Bild: In allen Gruppen waren mehr als zwei Drittel gegen jegliche Gebietsaufgabe. Der Kommentar der Soziologen: „Trotz einer möglichen Erschöpfung, der Verschlechterung der sozial-wirtschaftlichen Lage der schweren Kämpfe und der Terrorangriffe (auf Zivilisten und Wohngebiete) sind die Ukrainer weiterhin geschlossen der Ansicht, man dürfe dem Aggressor keine Zugeständnisse machen.“ Ein anderes Institut kam zu ähnlichen Ergebnissen.

Zugleich häufen sich sehr emotionale Forderungen in Reaktionen auf den Tod von „bekannten Soldaten“. Während anfangs meist davon die Rede war, die Invasoren und insbesondere Kriegsverbrecher müssten „zur Rechenschaft gezogen werden“, sind jetzt die Worte Hass, Rache und Jagd im Umlauf.

Nach der Tötung von etwa 50 ukrainischen Kriegsgefangenen Ende Juli in einem Straflager in Oleniwka, mutmaßlich durch russische Kräfte, schwor ein nicht inhaftierter Kommandeur der Einheit in einem Videoauftritt, künftig „Jagd“ auf die Verantwortlichen zu machen. Auch für den russischen Machthaber hatte er eine Botschaft: Wladimir Putin als der Hauptverantwortliche werde gemeinsam „mit seinen Schakalen“ hingerichtet werden.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.8.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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