Das Putin-Regime, „Geißel der Menschheit“?
Urteile über Putins aggressive Politik sind schnell gefällt. Baerbock setzt trotzdem auf Dialog
Der in den USA lehrender Ökonom und Russland-Experte Anders Åslund beriet einst Boris Jelzin und Leonid Kutschma. Wenn er heute, gebannt und gespannt auf den Angriff Russlands wartend, in der angloamerikanische Gemeinde für maximale Abschreckung und härteste Wirtschaftssanktionen twittert, erhält er meist zustimmende Antworten, zum Beispiel die eines Mannes, der sich als „Experte in Regierungskommunikation“ bezeichnet und tatsächlich für Ministerien in europäischen Hauptstädten arbeitet: „Ich sage immer: 1. Ukraine bis an die Zähne bewaffnen. 2. Russland zurücksanktionieren in die Steinzeit (…)“
Man kann sagen: Das ist Twitter. Aber wenn es um die Politik des Kremls geht, erstarren in den USA und bald darauf im ganzen sogenannten Westen die einen wie das Kaninchen vor der Schlange, bei den anderen steigt die Erregungsthermometer wie eine Hyperschallrakete. Dazu tragen Überschriften in führenden außenpolitischen Magazinen bei wie: „Russia Won’t Let Ukraine Go Without a Fight“ in Foreign Affairs. Mindestens fight ist also sicher, und die Leserschaft versteht, was gemeint ist: Krieg; aber im Beitrag wimmeln die Konjunktive.
Auch hierzulande ist Vieles gewiss, schließlich ist offensichtlich, dass Putin ein aggressiver Kriegstreiber ist: Krim-Annexion und Krieg in der Ostukraine sowie Boykott der Minsker Vereinbarungen; außerdem gen Europa stürmende Migranten, steigende Gaspreise. Und wozu schickte der Russen-Rambo seine Soldaten gleich nochmal nach Kasachstan? Schon gab es neuen Grund zu schnellen Anklagen: Er plane einen Angriff gegen mehrere Nato-Staaten gleichzeitig, war zu lesen, und zuletzt beschäftigten (angebliche?) Pläne zur Durchsetzung einer prorussischen Regierung in der Ukraine Experten und Analysten über ein ganzes Wochenende – neben einem unbedachten Marinechef.
Aber beginnen wir mit Fall 1: Putin schickt seine Soldaten nach Kasachstan. In der Welt war zu lesen, bevor sie den Boden des Flughafens in Astana betraten: „Das Putin-Regime und seine Verbündeten sind eine Geißel der Menschheit geworden.“
Vergessen wir mal, dass der Westen zu Nasarbajews Zeiten nichts gegen Korruption und Bestechlichkeit einzuwenden hatte und ihn hofierte. Worum geht es? Russlands Präsident schickte im Rahmen eines bis dahin belächelten Militärbündnisses russische Soldaten in ein Land, dessen Präsident nicht allein mit nicht näher definierten „ausländischen Terroristen“ fertig wurde – in Wahrheit aber vor allem nicht mit seinem zurecht unzufriedenen Volk.
Betont wird allerorten, dass die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Organisazija Dogowora o Kollektiwnoi Besopasnosti, ODBK) von Russland geführt wird und auch die meisten Soldaten stellt. (Was zutrifft, auch die Nato wird – nebenbei bemerkt – von einer Nation angeführt.) Und schon reicht’s für die Behauptung, Putin wolle Kasachstan annektieren – oder zumindest Teile davon wie in der Ukraine.
Nun, da Tokajew sie nicht mehr zu brauchen scheint, ziehen die Kremlkrieger wieder ab. Die Empörungsrakete verlischt, als wäre nichts gewesen.
Aber es bleibt immer etwas, wie der deutsche Volksmund weiß. Und tatsächlich: Was längst entstanden ist, ist ein Generalverdacht. Der verfestigt sich mit jedem Zetermordio.
So auch im Fall 2: Als der weißrussische Diktator Lukaschenko Tausende Migranten an die Außengrenze der EU karren ließ, lamentierten westliche Analysten, Expertinnen und Kommentatoren mit gut fundierten Vorwürfen und Fakten über das „aus Moskau und Minsk organisierte Flüchtlingsdrama“ (so die Bild-Zeitung). Allen war klar, die EU werde „an der Außengrenze von Minsk-Diktator Lukaschenko und dessen Paten im Kreml, Wladimir Putin (69) mit Migranten attackiert“.
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte am 15. November auf derselben Linie: „Die EU braucht eine starke Antwort auf Lukaschenko. Und auf Wladimir Putin.“ Denn in Brüssel glaubten viele, „dass Europa systematisch ‚getestet‘ werden soll und dass hinter diesem Test vor allem Wladimir Putin steckt“.
Auch Die Zeit sah „Krisenverursacher und Brandbeschleuniger in Minsk und Moskau“. Putin betreibe eine „Destabilisierungskampagne“ gegen die EU und erpresse Europa mit Gas.
So war es aber nicht in Belarus. Und hat jemand das vorschnelle Urteil bedauert? Gar um Verzeihung gebeten? Eine Fehleranalyse erstellt, um solche Missgriffe künftig zu verhindern?
Damit sind wir bei Fall 3: Als der Preis für Gas weggaloppierte, war sofort klar: Putin benutzt „Gas als Waffe“. Sergei Kapitonow und Heiko Pleines haben dem widersprochen und faktenbasierte, abwägende, verständliche Erklärungen für den Preisanstieg gegeben:
Gazprom sei nicht verpflichtet, Europa mehr Gas zu liefern als die Verträge vorsehen und dabei unterm Strich ein schlechtes Geschäft zu machen. Weder Gazprom noch Putin tragen Verantwortung dafür, dass den Verträgen inzwischen auf Betreiben der EU veränderte, neoliberale Preisfindungsmechanismen zugrunde liegen. Das Narrativ von Putin als Erdgaserpresser mit einer perfiden Kreml-Strategie aber hält sich weiter.
Fall 4 ist die Ukraine: Spätestens dieses Thema verlangt einen Vorspruch, um nicht in die eine oder andere Ecke gerückt zu werden: Krim + Ostukraine = nicht akzeptabel.
Ende des vorigen Jahrs standen wieder (und stehen bis heute) rund 100 000 russische Soldaten unweit der Grenze. In der angesehenen außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs behauptet Melinda Harings, „dass Putin die Ukraine erneut angreift, bald“.
Wir warten nun mit Anders Åslund auf diesen Tag, den niemand herbeisehnen sollte, aber manche fast schon zu beschwören scheinen. Inzwischen haben wir mit Angriffen an mehreren Fronten gegen Nato-Staaten zu rechnen und auf die Durchsetzung einer prorussischen Regierung in Kiew. Und die USA und Großbritannien fliegen schon einmal die Angehörigen ihres Botschaftspersonals in die Heimat zurück. Eindeutige Belege.
Geht es ums Rechthaben? Jetzt? Aber jetzt können wir noch nicht wissen, wie diese Sache ausgeht. Manche sind sich aber sicher. Sie scheinen prophetische Fähigkeiten zu haben.
Der traumatisierte Westen
Offenbar ist der sogenannte Westen traumatisiert von den Ereignissen von 2014. Niemand hatte die Annexion der Krim vorhergesehen, niemand die Besetzung von Luhansk und Donezk, beides unbestritten mit russischer Hilfe. Das soll nicht noch einmal geschehen. Könnte aber, und dafür wäre nicht nur eine Seite allein verantwortlich.
Es gibt tatsächlich eine Menge Gründe und Belege, Putins Entscheidungen zu kritisieren. Auch Sorge, gar Angst sind verständlich. Aber Angst ist in der Politik kein guter Ratgeber.
Das alles führt manchmal zu merkwürdigen Behauptungen wie jener, es sei „zu einer geografischen Annäherung des russischen Herrschaftsbereichs an die Grenzen der EU gekommen“. Hat Russland seine Grenzen nach Westen gerückt oder die EU ihre nach Osten? (Auch der Beitritt zahlreicher Länder – das sei ausdrücklich erwähnt – unbestritten deren freie Entscheidung.)
Und nun also der Mehrfrontenkrieg (Fall 5): Die neueste Prognose der Frankfurter Allgemeine lautet: „Nach der Ukraine ist Europa dran.“ Was in der FAZ eine wilde Spekulation ist, wird im Magazin Der Spiegel, dank sicherer Quellen – „Nato-Insider“ – zu einer ernst zu nehmenden Wahrscheinlichkeit: Dass Putin über die Ukraine hinaus den bewaffneten Konflikt mit dem Westen suchen könnte, hielten sie „nicht einmal mehr für ausgeschlossen“. Sie befürchten einen russischen Angriff an mehreren Fronten. Russland könne sogar, kein Zweifel, „ihre zuletzt teils massiv gesteigerte Präsenz im Mittelmeer, im Nordatlantik und in der Arktis nutzen, um auf breiter Front loszuschlagen – selbst gegen Nato-Staaten“. Dabei sei „mit massiven Desinformationskampagnen und Cyberattacken zu rechnen“.
Stellt sich – die Frage drängt sich auf – in diesem jüngsten Fall der Vorhersehung und Vorverurteilung, gar der Desinformation das „Sturmgeschütz der Demokratie“ als Lautsprecher der Nato zur Verfügung? Wenige Wochen zuvor hatte dieselbe Publikation noch „Mehr Kalten Krieg wagen“ wollen.
Wem nutzt die Kriegsspekulation?
Zum Handwerk des Journalismus gehört die Frage: Cui bono? In aktuellen Kriegsgeklingel scheint das vergessen zu sein. Oder es fehlt an Mut, weil um die Ecke der Vorwurf Verschwörungstheorie wartet. Aber es muss sein:
Es ist keine zehn Jahre her, da sprachen eingefleischte Transatlantiker, die Nato habe ausgedient. Diese Nato. Sie müsse militärisch verschlankt werden, schrieb zum Beispiel Theo Sommer, ehemaliger Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, sie solle sich nicht über die ganze Welt ausdehnen. Als Sommers Buch herauskam, fürchtete sich Europa, mehr noch Deutschland, davor, die USA könnten sich mit ihrem „pivot to Asia“ vom alten Kontinent abwenden.
Nun hat die Nato wieder einen Gegner in Europa, eine Herausforderung, die nach Waffen verlangt, und Zuwachs gibt’s vielleicht bald auch noch. Europa muss sich nicht mehr fürchten, dass Kasernen und Krankenhäuser in Rheinland-Pfalz geschlossen werden, und seine Verteidigung weiterhin nicht selbst bezahlen.
Aber Sommers Forderung, in der Nato müssten künftig die USA und Europa „auf Augenhöhe“ zusammenarbeiten, wurde auch nicht wahr. Vielmehr gingen die Europäer den bequemen Weg, überließen den Amerikanern Hege und Pflege des (ost)europäischen Felds. Eine ohnehin unbedeutende Entscheidung, weil die „Fuck the EU“-Nulands ohnehin nicht mit den Europäern teilen wollten, jedenfalls nicht Wissen, Einfluss und Macht, die burdens schon, halbherzig.
2014 hatten die USA ihre „Zusammenarbeit“ mit der Ukraine längst erweitert, hatte McCain den Demonstranten in Kiew Mut gemacht, ihr Schicksal im Westen zu suchen. Das ist legitim. Aber die anschwellenden Kriegstrommeln von der anderen Seite des Atlantiks hält nicht nur Klaus von Dohnanyi (in seinem neuen Buch „Nationale Interessen“) für unbegründet (er befürchtet keinen Angriff), allerdings auch innenpolitisch motiviert und gleichzeitig amerikanischen Großmachtinteressen geschuldet.
Legitim erscheint aber auch, dass Russland die Nato als potenzieller Angreifer sieht. Diese Sorgen kann und sollte niemand mit Verantwortung einfach vom Tisch wischen. Und wer die militärischen Einsätze Russlands in der jüngsten Vergangenheit als Beleg für einen Großmachtcharakter anführt, darf solche der USA nicht verschweigen.
Auch die hypothetische Frage, ob die USA russische Raketen in Mexiko dulden würde, wenn dessen Regierung dies wünschte, ist zum Zweck der Einschätzung der Gefährdungslage bezüglich des Ukrainekonflikts legitim. In Kuba haben die USA das nicht geduldet, kommunistische Regierungen in ihrem Vorgarten aktiv bekämpft.
Klar, ist Geschichte. Olle Kamellen. Äpfel mit Birnen. Whataboutism.
Und Irak, der erschwindelte Krieg?
Kesse Kommentare in kriegerischen Zeiten
Die Ukrainekrise gilt in Moskau inzwischen als größte außenpolitische Krise seit Kuba. Damals verhinderten vernünftige Politiker einen Atomkrieg. Sie sprachen miteinander. Und man kann froh sein, dass das auch heute gilt – wenn auch zunächst ohne befriedigenden Ausgang.
Miteinander reden, einander verzeihen gar und vielleicht doch noch einmal neu anzufangen statt in den Krieg zu schlafwandeln (denn nicht die Rufer nach Vernunft tun das) erscheint derzeit unmöglich.
Zu Beginn seiner Amtszeit, 2001, durfte Putin vor dem Bundestag sprechen. In einem kürzlich veröffentlichten Appell wird das als „schwerwiegende Fehlentscheidung der deutschen Russlandpolitik“ bezeichnet – und niemand stört sich daran.
In den meinungsführenden Medien sind die Mahnenden fast vollständig verstummt, aus den Kommentarspalten verschwunden. Kesse Kommentare scheinen in kriegerischen Zeiten gefragt.
Wer heute zum Dialog mahnt, erntet von der Mehrheit der (extrem) russlandkritischen Meinungsmacher den Vorwurf des Appeasements. Der Krieg scheint schon unvermeidlich. Auch mit Schreibmaschinen kann geschossen werden, mit Computern und Laptops, auch mit dem Smartphone in den sogenannten sozialen Medien.
Gut, dass in der Politik Vernunft einzukehren scheint. Annalena Baerbock ist jetzt nicht mehr Wahlkämpferin, sondern Außenministerin, und als „Aufgabe einer starken Außenpolitik“ hat sie definiert: „im Gespräch zu bleiben“. Dialog sei „der einzige Ausweg aus dieser Krise“, sagte sie im Interview der Süddeutschen Zeitung.
Baerbock will zurück zum Normandie-Format, es sei „über jeden einzelnen Satz der Minsker Abkommen zu reden“. Und in diesem Zusammenhang zerstört sie die letzte falsche Gewissheit der Medienexperten: „Auch Kiew muss bei der Umsetzung von Minsk seine Hausaufgaben machen.“