Russland und der Westen

Baerbock: Druck auf Russland erhöhen

Harte Sanktionen, Abrüstung, Ende der politischen Unterstützung von Nord Stream 2: die Kanzlerkandidatin im Interview

von Helene Bubrowski und Konrad Schuller
Annalena Baerbock: "Die Bedrohung der Ukraine durch Russland ist weiterhin groß."

Das Interview der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung mit der Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen, Annalena Baerbock, konzentrierte sich auf Außenpolitik. Wo es um Russland ging, hat sich gezeigt: Mit den Grünen in der Regierung wäre eine andere Russlandpolitik zu erwarten. KARENINA dokumentiert deshalb das Gespräch.

 

Gerade erst hat Russland mit einem gewaltigen Militäraufmarsch die Ukraine unter Druck gesetzt. Die Truppen scheinen jetzt wieder abzuziehen, aber um solcher Erpressung besser widerstehen zu können, bittet Kiew jetzt um Flugabwehrkanonen und andere defensive Waffen. Würden Sie als Kanzlerin solche Wünsche erfüllen?

Die Bedrohung der Ukraine durch Russland ist dennoch weiterhin groß. Das Allerwichtigste ist, jetzt die Umsetzung des Minsker Abkommens sicherzustellen. Die OSZE-Beobachtermission braucht zu allen Teilen des russisch besetzten Gebiets Zugang und darf keiner Sabotage mehr ausgesetzt sein. Sie benötigt auch dringend mehr Mittel für die Luftaufklärung.

Ein paar unbewaffnete Beobachter gegen hunderttausend hochgerüstete Soldaten? Ist das realistisch?

Man sollte nicht unterschätzen, was eine arbeitsfähige internationale Mission für eine Schlagkraft haben kann, auch ohne Bewaffnung. Weil Russland dieser Mission zugestimmt hat und viele Nationen vertreten sind, würde ein russischer Präsident es sich dreimal überlegen, ob er bei einem militärischen Vordringen diese Leute gefährden will.

Das tun seine Helfer in der Ostukraine sowieso schon dauernd. Aber da Sie von internationalen Missionen sprechen: In Ihrem Wahlprogramm steht, dass bewaffnete Einsätze der Bundeswehr ein UN-Mandat brauchen. Dort heißt es auch, falls ein Mitglied des Sicherheitsrats sein Vetorecht missbrauche, gebe es ein Dilemma. Wenn Sie an der Regierung sind, müssen Sie trotzdem entscheiden. Wie?

Die Wahl zwischen Handeln und Nichthandeln ist manchmal eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Es gibt Momente, in denen militärisches Agieren Schlimmstes verhindern kann, aber auch Augenblicke, in denen Militäreinsätze den Schaden vergrößern. Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht. Und entscheidend ist, siehe Afghanistan, auch die Frage: Was passiert nach einem Abzug von Truppen? Wie kommt man aus Konflikten wieder heraus? Das alles kann man nicht theoretisch vorhersagen, sondern muss es dann im konkreten Fall entscheiden.

Georgien und die Ukraine wollen seit vielen Jahren in die Nato. Die aber lehnte 2008 ein Aufnahmeprogramm ab, und danach wurden beide Länder innerhalb weniger Jahre Opfer russischer Überfälle. Jetzt hat der ukrainische Präsident Selensky die Bitte um einen "Membership Action Plan" wiederholt. Sollte man aus der Erfahrung nicht lernen und ihm die erbetene Unterstützung anbieten?

Das Wichtigste ist derzeit, den Druck auf Russland zu erhöhen, damit das Minsker Abkommen eingehalten wird. Die Stabilisierung unmittelbar jetzt hat Priorität. Vorher sind Schritte zur Nato-Mitgliedschaft ohnehin nicht realistisch. Und so hart es mit Blick auf das russische Agieren auch ist: Wir dürfen nicht alle Gesprächsbeziehungen mit Moskau abschneiden.

Was tun? Abschreckung durch die Lieferung defensiver Waffen lehnen Sie ab. Ein Aufnahmeprogramm der Nato lehnen sie ab. Was also ist der Weg, Russland zur Einhaltung geltender Abmachungen anzuhalten?

Die Botschaft an Moskau muss sein: Souveräne Staaten entscheiden über ihre Bündnisse selbst. Dazu zählt auch die Perspektive einer Ukraine in der EU und in der Nato. Aber man kann nicht den dritten Schritt vor dem ersten gehen und erst recht nicht in einer Situation, wo es eine harte Auseinandersetzung mit Russland gibt. Ich halte eine Unterstützung der Ukraine bei der Räumung von Minen für sinnvoll.

Zudem gibt es ja Sanktionen als harte Maßnahmen, aber sie werden permanent konterkariert, weil die deutsche Bundesregierung am wichtigsten Prestigeprojekt des Kremls, der Gaspipeline Nord Stream 2, festhält. Ich hätte schon längst Nord Stream 2 die politische Unterstützung entzogen.

Ist das eine rote Linie für Koalitionsverhandlungen? Alle denkbaren Koalitionspartner unterstützen schließlich das Projekt.

Ich halte nichts von roten Linien, aber ein anderer Umgang mit autoritären Regimen ist für mich in einer künftigen Bundesregierung eine Schlüsselfrage – für unsere Sicherheit und unsere Werte. Wir sind gerade in einem Wettstreit der Systeme: autoritäre Kräfte versus liberale Demokratien. Hier geht es auch um China. Das Projekt der Neuen Seidenstraße mit seinen weltweiten Direktinvestitionen in Infrastruktur oder Energienetze besteht nicht nur aus Nettigkeiten. Das ist knallharte Machtpolitik. Da dürfen wir uns als Europäer nichts vormachen.

In diesem Wettstreit plädieren Sie für Zusammenarbeit mit Amerika und die Eindämmung Chinas. Zugleich kann der Kampf gegen die Erderwärmung ohne Peking nicht gewonnen werden. Wie soll das gehen?

Mit Dialog und Härte. China ist eine so große aufstrebende Wirtschaftskraft, dass wir uns nicht komplett davon abschotten können. Auf der anderen Seite sind unsere liberalen Demokratien, ist die Europäische Union stark, weil sie eine Union der Werte ist. Entsprechend müsste sie auch handeln. Bei dem neuen Europäisch-Chinesischen Investitionsschutzabkommen zum Beispiel hat die europäische Seite in Bezug auf die unterdrückte Minderheit der Uiguren nicht hinreichend die Frage von Zwangsarbeit angesprochen.

Kann Europa den Chinesen durch ein Investitionsabkommen Menschenrechte verordnen?

Die Souveränität aller Staaten ist ein Grundpfeiler des Völkerrechts. Aber auch Europa ist souverän. Als gemeinsamer Binnenmarkt kann Europa definieren, welche Produkte auf unseren Markt kommen, und wir können sagen: Produkte aus Zwangsarbeit kommen nicht auf unseren Markt. Wir können auch definieren, wie wir mit Technologie-Herstellern aus Drittstaaten mit Blick auf unsere kritische Infrastruktur umgehen. Das ist für unsere Sicherheit hochrelevant. Wir sehen Infiltrierungsversuche ausländischer Regierungen im digitalen Bereich. Und das bedeutet für mich: Wenn die chinesische Regierung von chinesischen Konzernen, wie von Huawei zum Beispiel, verlangt, europäische Daten und Informationen weiterzugeben, können wir Produkte von solchen Herstellern nicht in europäische Infrastruktur einbauen.

Sie wollen im Wettstreit der Systeme eng mit Amerika zusammenarbeiten. Setzt das nicht voraus, dass Deutschland bestehende Abmachungen einhält und wie besprochen zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgibt?

Was ich von den Amerikanern gerade höre, ist, dass man gemeinsam gewaltige Summen in Klimaneutralität und in die Zukunftsfähigkeit der Demokratie investieren will. Das ist der Moment, wo man eine transatlantische Allianz für Klimaneutralität ins Leben rufen sollte, die eben nicht nur dem Klima dient, sondern auch einem modernen Staat, einem modernen Amerika, einer modernen Europäischen Union. Im Wettstreit der Systeme könnten wir gemeinsam einen Wirtschaftsraum schaffen – das schweißt die USA und Europa zusammen. Mit Blick auf die Nato halte ich es nicht für besonders sinnvoll, jetzt über Vorschläge zu diskutieren, die mehr als 15 Jahre alt sind.

Der Zwei-Prozent-Beschluss der Nato ist sieben Jahre alt und gilt bis heute.

Ja, aber er beruht auf Grundlagen von 2002 und wurde 2014 nur bestätigt. Die Welt hat sich seither weitergedreht.

Als Völkerrechtlerin und Verfechterin einer regelbasierten Ordnung müssten sie doch sagen, dass man Abmachungen einhalten muss, oder? Wenn man jetzt sagt: "Das ist lang her", dann könnte man genauso gut den Schutz von Zivilisten durch die Haager Landkriegsordnung in Frage stellen. Die ist schließlich schon mehr als 100 Jahre alt.

Es gibt einen Unterschied zwischen rechtlich bindenden Völkerrechtsverträgen und Zielvorgaben in Nato-Abschlusserklärungen. Und wenn Organisationen nicht lernfähig sind, werden sie stecken bleiben. Ja, Deutschland und Europa müssen sich mehr um ihre eigene Sicherheit kümmern. Aber strategisch auf der Höhe der Zeit. Deswegen halte ich zum Beispiel ein europäisches Cyberabwehrzentrum für einen wichtigen Beitrag zur Lastenteilung, den wir Europäer erbringen können.

Das pauschale Zwei-Prozent-Ziel dagegen schafft nicht mehr Sicherheit. Es richtet sich ja am Bruttoinlandsprodukt aus. Wir befinden uns angesichts der Pandemie gerade in einer Wirtschaftskrise. Nach dieser Logik müsste dann ja unsere Ausgabenplanung heruntergefahren werden. Das zeigt doch, wie absurd dies ist.

Das grüne Grundsatzprogramm schlägt vor, "EU-Einheiten" mit gemeinsamer Kommandostruktur zu schaffen. Ist das der Entwurf einer europäischen Armee?

Das sind Schritte in diese Richtung. Aus meiner Sicht müssen wir unsere Fähigkeiten als Europäer stärker bündeln. Die Militärausgaben Europas sind drei- bis viermal so hoch wie die Russlands, unsere Fähigkeiten aber sind begrenzt, weil wir vieles doppeln. Das ist nicht effizient. Ich halte es für sinnvoll, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion weiterzuentwickeln.

Wer sollte eine europäische Armee kontrollieren? Das Europaparlament?

Das ist einer der großen Knackpunkte auf dem Weg dahin. Wir haben als Europäerinnen und Europäer unterschiedliche historische Erfahrungen: Deutschland hat vor rund 80 Jahren durch die Schoa und seinen Angriffskrieg schlimmstes Leid über Europa und die Welt gebracht. Zu unserer historischen Verantwortung gehört, den Einsatz des eigenen Militärs strikt zu kontrollieren. Unsere europäischen Nachbarn hat die Geschichte dagegen vor allem gelehrt: Wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen. All das heißt, dass wir über die parlamentarische Kontrolle des Militärs intensiv diskutieren müssen. Mein Vorschlag ist, hier das Europäische Parlament zu stärken.

Die Grünen wollen ein Deutschland ohne Atomwaffen. Fordern Sie den sofortigen Abzug aller amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden?

Eine atomwaffenfreie Welt ist eine sicherere Welt, das gilt auch für Europa und Deutschland. Aber bloßes Hinausposaunen von Visionen wird Deutschland kein Stück sicherer machen. Um voranzukommen, muss man wissen, wie, und da öffnet sich gerade ein Zeitfenster für wichtige erste Schritte. Die neue US-Regierung und Russland haben den New-Start-Vertrag zur nuklearen Abrüstung gerade um fünf Jahre verlängert. Darauf wollen wir aufbauen und in diesem Zuge über die amerikanischen Atomwaffen in Europa sprechen. Auch eine neue deutsche Bundesregierung muss sich da von Anfang an einbringen, das geht aber nur in einem Nato-Prozess.

Soll Deutschland so lange unter dem Nuklearschirm der Vereinigten Staaten bleiben? Oder sollte man, falls das doch noch länger dauert, eine europäische Möglichkeit der Abschreckung suchen?

Deutschland ist außenpolitisch nur stark, wenn es im europäischen Konzert handelt. Gerade unsere osteuropäischen Nachbarn haben ja die Situation in der Ukraine vor Augen. Daher müssen bei jeglichen Abrüstungsbemühungen die Sicherheit und der Schutz dieser Staaten zentral sein. Im Zuge einer Abrüstungsinitiative müsste man über einen Verzicht der Nato auf die nukleare Erstschlagsoption sprechen. Damit könnte man einen Schritt Richtung Moskau gehen und Russland fragen: Gut, und was ist mit euren Raketen, die ihr bei Kaliningrad stationiert habt?

Und Sie glauben tatsächlich, dass Russland durch einseitige Vorleistungen plötzlich Friedensmacht wird?

Nein. Es geht um gegenseitige Abrüstungsschritte. Aber diese Haltung, wir machen das gar nicht erst, weil wir Angst haben, es funktioniert nicht, die hat uns nicht in eine sicherere Welt geführt. Im Gegenteil. Die Lücke, die durch die außenpolitische Passivität der aktuellen Bundesregierung entstanden ist, füllen direkt in unserer Nachbarschaft autoritäre Kräfte wie Russland und die Türkei. Daher werbe ich für eine aktive deutsche und europäische Außenpolitik.

Das Interview ist ursprünglich am 25.4.2021 in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erschienen. / © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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