Krieg in der Ukraine

Auch die Ukraine kann gewinnen

Herfried Münkler: Der Krieg wird enden, aber es gibt differierende Vorstellungen über den Frieden

von Andreas Ernst
Herfried Münkler zur Ukraine
Herfried Münkler: "Ich neige dazu, die Akteure in Kiew und Moskau als rational denkend einzuschätzen."

Herr Münkler, wir sprachen miteinander wenige Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar. Die Schlussfolgerung des Gesprächs war, dass aus europäischer Sicht eine neutrale Ukraine, versehen mit verbindlichen Sicherheitsgarantien, die beste Lösung für den Konflikt wäre. Gilt das nach bald drei Monaten Krieg immer noch?

Ja, denn damit hätten ungeheure Zerstörungen und Zehntausende Tote vermieden werden können. Vielleicht hätte auch die territoriale Integrität der Ukraine, wie sie bei Kriegsbeginn bestand, sichergestellt werden können. Und übrigens auch das europäische Wohlstandsniveau. Denn es wird unter den höheren Verteidigungsausgaben, der Umstellung der Energieversorgung und der Inflation leiden.

Auch das europäische Modell ist dahin, wonach gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit und Verflechtung Vertrauen und Stabilität schaffen. Und schließlich hat der Krieg auch globale Auswirkungen. Viele Länder sagen sich jetzt: Auf internationale Verträge ist kein Verlass, nur der Besitz von Atomwaffen sichert uns wirklich ab. Diese Schlussfolgerung ist eine Katastrophe.

Im selben Gespräch kamen Sie zum Schluss, dass die Ukraine nur eine eingeschränkte Bündnisfähigkeit habe, weil sie im Kreuzpunkt zweier Einflusszonen liege: jener Russlands und jener der EU. Als bündnisfreier Pufferstaat stabilisiere sie dagegen die europäische Friedensordnung. Gegen diese Perspektive lässt sich der Einwand erheben, sie unterschlage die politische Subjektivität der Ukraine, die sich im erfolgreichen Widerstand des Lands doch gerade beweist.

Die Ukraine wird unter die Räder kommen, wie auch immer die Sache ausgeht. Zwar kann das Land souverän den Wunsch äußern, der Nato und der EU beizutreten, aber das impliziert nicht deren Verpflichtung, sie auch aufzunehmen. Der Prozess zum Beitritt zur EU wird ein sehr langer Weg werden, sollten die Kopenhagener Kriterien weiter gelten. Zudem würde eine weitere Osterweiterung die Handlungsfähigkeit der EU infrage stellen.

Dem versucht man mit der Vorstellung Rechnung zu tragen, das Land bloß zu assoziieren. Das zeigt doch gerade, dass wir uns hier in einer Zone des abnehmenden westlichen Einflusses befinden bzw. in einer Zone der Überlappung mit russischem Einfluss. Darüber hätte man sich im sogenannten Normandie-Format verständigen können, wo neben Deutschland, Frankreich und Russland eben auch die Ukraine am Tisch saß…

… um sich auf die erwähnte Neutralität mit Sicherheitsgarantie zu einigen?

Genau. Warum hat sich Putin darauf nicht eingelassen? Er sah wohl machtopportunistisch die Möglichkeit, nachdem Weißrussland und Kasachstan in seine Abhängigkeit geraten waren, die Ukraine ganz in seinen Einflussbereich zu bringen. Zudem hatte er Angst vor einer demokratischen Ukraine vor der Haustür und denkt wohl auch, nur ein Russland mit einverleibter Ukraine habe imperialen Charakter. Und um die Erneuerung des Imperiums geht es ihm ja offensichtlich.

Nach anfänglichem Zögern steigert der Westen das Engagement und setzt auf Eskalation. Der amerikanische Verteidigungsminister sagte Ende April in Ramstein, es gelte Russland so weit zu schwächen, dass es keine Gefahr für seine Nachbarn mehr darstelle. Zudem legen die Amerikaner ein Lend-lease-Programm auf, das schwere Waffen schnell und günstig an die Front schafft.

Nun, die Vorstellungen über einen Friedensschluss liegen im Westen weit auseinander. Die absolute Minimalbedingung ist sicher die Weiterexistenz der Ukraine als souveräner Staat, aber eventuell reduziert auf das Gebiet westlich des Dnipro. In Deutschland und Frankreich betrachtet man eine Ukraine in den Grenzen des 23. Februars (also ohne Krim und Separatistengebiete) als Sieg. Die Briten möchten die Ukraine von 2013, also mit Krim und Donbass, wiederherstellen.

Die Amerikaner schließlich haben eine eigene Sicht. Sie sagen: Putin ist uns wieder in die Quere gekommen, wo wir uns doch jetzt um Xi Jinping und die Herausforderung durch China kümmern wollten und nicht um Europa. Das soll nie mehr passieren.

Wir organisieren also einen Abnützungskrieg gegen die Russen, der ihr militärisches Potenzial aufzehrt. Denn in Abnützungskriegen sind die Tiefe der Logistik und die Fähigkeit zur Mobilisierung von Kämpfern entscheidend. Die Europäer signalisieren jetzt den Russen, dass sie mit einem Verhandlungsfrieden vermeiden können, von den Amerikanern mithilfe der Ukrainer ausgeblutet zu werden. Der Westen spielt also mit unterschiedlichen Optionen.

Welche Rolle spielen da die Ukrainer? Sie sind es ja, die kämpfen.

Na gut, auf den ersten Blick ist das eine ganz wichtige Rolle: die tapfere Armee und der Widerstandswille der Bevölkerung. Aber wenn man genauer hinschaut, sind das abhängige Variablen der Waffen- und Geldzuflüsse aus dem Westen. Da sitzen auf der einen Seite die westlichen Strategen und auf der anderen Seite die Kreml-Strategen, und die Ukraine ist der Schauplatz der Auseinandersetzung. Das unterstreicht nochmals unsere Ausgangsüberlegung, dass in dieser Zone überlappender Interessenssphären der Waffengang zugunsten von Verhandlungen hätte vermieden werden können.

Aber die Ukraine muss sich ja nicht für einen Abnützungskampf instrumentalisieren lassen. Sie könnte etwa sagen: Uns reicht der Abzug der Russen aus den seit dem 24. Februar eroberten Gebieten. Dann hören wir auf zu kämpfen.

Richtig, aber ein solcher Rückzug der Russen muss militärisch zunächst erzwungen werden. Das hat sehr reichhaltige europäische Waffenlieferungen und eine Reduzierung der ukrainischen Abhängigkeit von den USA und ihren Waffen zur Voraussetzung.

Was bedeuten Sieg und Niederlage in diesem Krieg?

Sieg und Niederlage sind schwierige Begriffe. Es gibt ja Leute, Habermas zum Beispiel, die sagen: Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen.

Das ist eine empirisch falsche Aussage. Vietnam siegte gegen die USA. Afghanistan zuerst gegen die Sowjetunion, dann gegen den Westen. Die Frage ist, was sind Zweck und Zielsetzung eines Kriegs.

Auch die Ukraine kann gewinnen. Nicht im Sinn einer Debellatio, der Niederwerfung des Gegners und des Einmarschs in Moskau. Aber indem sie die Russen zur Resignation in Bezug auf ihre weitreichenden Kriegsziele zwingt. Das ist dann ein Sieg.

Ich glaube, dass dieser Krieg zu Ende geht, wenn seine Fortsetzung mit den Verlusten an Menschenleben und Infrastruktur die Ukrainer immer mehr zu Verlierern macht. Das gilt auch für die Russen. Dass es ihnen nicht gelingt, einen derart unterlegenen Gegner zu überrennen, ruiniert das Ansehen ihrer Armee.

Welches Ende halten Sie für wahrscheinlich?

Ich neige dazu, die Akteure in Kiew und Moskau als rational denkend einzuschätzen. Aber sicher kann man nicht sein. Gerade die großen Opferzahlen könnten Russland den Ausstieg aus dem Krieg erschweren, indem sie Moskau zwingen, irgendwelche Kriegsziele zu erreichen und dafür noch mehr Opfer zu bringen.

Auf ukrainischer Seite mag der Hass nach der Zerstörung des Landes so groß sein, dass man die Russen nicht aus dem „Schwitzkasten“ lassen will und weiterkämpft. Das wäre kollektivpsychologisch verständlich, aber strategisch und geopolitisch eine Katastrophe.

Möglich ist auch ein Ende der Kämpfe aus Erschöpfung. Das würde dann zu einer Waffenstillstandslinie irgendwo im Osten des Lands führen, an der sich die beiden Armeen noch auf lange Zeit gegenüberstehen.

Ja, und zwar als revisionistische Mächte, weil die eine Seite oder auch beide Seiten den Status quo nicht akzeptieren. Diese Konstellation machte einen erneuten Krieg wahrscheinlich. Friedensordnungen, die Bestand haben sollen, müssen dafür Sorge tragen, dass es keine revisionistischen Mächte gibt. Das kann man aus dem Scheitern der Pariser Friedensordnung von 1919 und des Genfer Völkerbunds lernen.

Erleben wir jetzt eine Renaissance des Westens und der transatlantischen Einheit?

Die Probleme zwischen Europa und den USA sind nicht weg, sie sind aber derzeit nicht sichtbar. Die Amerikaner hegen weiterhin die Erwartung, dass die Europäer in der Lage sein müssen, solche Probleme auch militärisch selber zu lösen. Dazu gibt es tatsächlich auch keine Alternative mehr, und das entschärft die Differenzen mit den USA.

Denn das, was man das Steinmeier-Modell nennen könnte, ist vom Tisch: durch gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit Stabilität und Vertrauen herzustellen. Das Vertrauen ist weg, und zwar komplett. Natürlich wird man mit Putin wieder verhandeln müssen. Aber auf sein Wort wird man wenig geben können, stattdessen wird man ihm permanent gepanzert gegenüberstehen.

Wie schlägt sich die EU in dem Konflikt?

Für die EU ist das so etwas wie eine Sternstunde. Denn es beschleunigt eine Entwicklung, in der sich die Union von ihrem Selbstverständnis als bürokratischer Regelgeber entfernt und stattdessen versucht, ein außen- und sicherheitspolitischer Akteur zu werden. Das ist ein Charakterwandel der EU, der vor ein paar Monaten undenkbar schien.

Klar, die Sollbruchstellen bleiben: zwischen Nord und Süd in Finanzfragen, zwischen Ost und West beim Rechtsstaat. Aber sie sind durch die gemeinsame Bedrohung durch Russland nicht mehr so relevant.

Immerhin besteht die Gefahr, dass Ungarn unter Viktor Orbán als Querschläger die Einheitsfront durchbricht – derzeit mit der Weigerung, beim Erdöl-Boykott mitzumachen.

Das glaube ich nicht, das Geld der EU ist Orbán wichtiger als das russische Öl. Er baut seine Position auf, um anderswo, etwa im Rechtsstaatsstreit, etwas herauszuholen.

Das größere strategische Problem ist Serbien. Seine Russlandfreundschaft ist tiefer als jene Ungarns. Und es ist eine revisionistische Macht auf dem Balkan, sowohl was Kosovo betrifft als auch mit Blick auf den serbisch dominierten Teil Bosniens. Es wird nicht einfach für die EU. Wenn sie sagt: Nein, ein weiteres problematisches Mitglied wollen wir nicht, dann könnten die Serben ganz auf die russische Karte setzen. Eines Tages sind dann die Russen mit Truppen vor Ort, um die Region systematisch zu destabilisieren. Das Ziel wäre es, den Balkan in Brand zu setzen, was keine große Kunst ist.

Da bin ich mir nicht sicher. Immerhin ist Serbien von Nato-Staaten umzingelt, und die Kriegslust ist auf dem überalterten Balkan nach dem Trauma der Kriege der 1990er-Jahre nicht groß.

Es muss ja nicht ein Krieg mit Waffen sein, auch hybride Kriegsführung, Falschinformation und dergleichen können destabilisieren. Die Frage ist: Schafft es die EU, dort eine stabile, von außen nicht zu destabilisierende Konstellation zu schaffen? Oder bleibt die Region „porös“ und damit offen für Einflüsse nicht nur der Russen, sondern auch der Chinesen?

Darauf reagiert Macron konstruktiv, indem er eine Anbindung an die EU ohne volle Mitgliedschaft für schwierige Länder wie die Ukraine oder die Kandidaten auf dem Balkan vorschlägt.

Ja, das freut mich besonders, weil ich schon lange die EU als Kreis aus Kreisen und Ellipse aus Ellipsen betrachte: den Schengenraum, den Euro-Raum und so weiter. Da kann man jetzt einen zusätzlichen Kreis bauen, um Staaten an der Peripherie einzubinden, die für eine Vollmitgliedschaft nicht oder noch nicht geeignet sind. Das liegt für mich, der ich mich lange mit dem Konzept von Imperien befasst habe, eigentlich sehr nahe.

Es besteht nun die Chance, dass die EU zu einem strategisch handelnden Akteur wird. Eine Organisation also, die nicht wie die Uno bloß Vermittler zwischen allen ist, sondern aus der Not heraus die Fähigkeiten der europäischen Länder bündelt und ihre Schlagkraft stärkt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 19.5.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung