Angst ist ein schlechter Ratgeber

Putin hat Angst vor den Menschen, die Menschen vor Putin, die EU braucht Mut und Geschlossenheit

Sieg auf der ganzen Linie: Alexei Nawalny im Straflager verschwunden, die Proteste der Empörten abgesagt, die Lufthoheit im Staatsfernsehen wiederhergestellt, die Europäer mit der Ausweisung von Diplomaten und Drohungen beschäftigt, ihr Abgesandter gedemütigt.

Welch ein Sieg. Nawalny ist präsenter denn je: Mit sicherem Machtinstinkt, Mut und Opferbereitschaft wurde er zum Märtyrer. Die Macht kommt nicht länger umhin, sich an seinen Vorwürfen der Korruption und des Machtmissbrauchs abzuarbeiten. Sogar der Präsident selbst musste in den Ring steigen.

Nawalny nahm den Angriff auf sein Leben zum Anlass, den zentralen Gegenangriff zu führen: Jede(r) vierte der 144 Millionen Russinnen und Russen hat inzwischen jene eindrucksvolle Videodokumentation gesehen, in der „der Blogger“ akribisch den Nachweis zu führen bemüht ist, dass entgegen der allgemeinen Annahme – „die anderen stehlen, aber der Zar ist gut“ – auch Nummer eins sich einen goldverzierten Palast gebaut hat.

Die Macht ist geschwächt, sie verschärft die Repression und das Internet siegt über das Propagandafernsehen. Auch wenn die Menschen ihre Proteste einstweilen eingestellt haben – die Probleme sind nicht gelöst, ganz im Gegenteil. Die real verfügbaren Einkommen sind in den vergangenen sieben Jahren um zehn Prozent zurückgegangen, die Infrastruktur ist vielerorts marode, die Ausgaben für das Gesundheitssystem wurden immer weiter beschnitten.

Rolls Royce meldete dagegen dieser Tage stolz, dass man in keinem der 111 Jahre der Firmenpräsenz in Russland so viele Fahrzeuge verkauft habe wie 2020. Moskau ist die einzige Stadt weltweit mit zwei Verkaufssalons der Edelmarke.

Die Angst des Kremls vor dem Wandel

Es sei gar nicht in Abrede gestellt, dass der Präsident die Beschwernisse der Menschen beheben will, aber jeder neue, große Plan, dies zu tun, ist bislang gescheitert. Was klappt, ist die neue Brücke zur Krim, der dem Vernehmen nach teuerste Anschluss der Welt. Alle großen Reformpläne laufen nicht allein in die Gummiwand einer überbordenden, korrupten Bürokratie, die jede Initiative erstickt.

Nein, ein Regime, das keine demokratische Herausforderung zu fürchten braucht, muss sich nicht wandeln. Glaubt es. Doch weil man sich dessen eben doch nicht so ganz sicher ist, vor allem aber, weil man überzeugt ist, „der Westen“ stricke an einer großen Verschwörung, fürchtet man eines: eine „Farbrevolution“, wie sie in Tunesien, Georgien oder in der Ukraine scheinbar stabile Regime praktisch von einem Tag auf den anderen hinweggefegt hat.

Dies ließe sich relativ einfach verhindern. Man müsste nur auf die Anliegen und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger eingehen. Nicht alle rufen ja nach demokratischen Freiheiten.

Die verarmten Rentnerinnen und Rentner oder die Menschen abseits der glanzvollen Metropolen haben ganz andere Sorgen. Doch die Machthaber haben eben auch die Perestroika und ihre Folgen im Hinterkopf: Versuche, zu reformieren, könnten leicht den Geist aus der Flasche lassen.

Die Angst vor staatlicher Willkür

Sind weitere Gewalt und gar baldiger Kollaps also unabwendbar? Durchaus nicht. Die Macht kann, wenn sie will, auch elastisch reagieren und hier und da ein paar Zugeständnisse machen oder Wohltaten ausreichen. Die natürlichen Reichtümer des Landes sind groß genug, auch wirtschaftlich schwierige Zeiten zu überstehen.

Und man hat ja auch noch den Repressionsapparat, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Die Angst der Menschen vor staatlicher Willkür ist die große Verbündete des Regimes, denn der Machtapparat verfügt ja nicht nur über Polizeiknüppel, sondern er kann exmatrikulieren, den Arbeitsplatz gefährden oder mit Straflager drohen.

Wahrheit liegt überdies im alten russischen Sprichwort: „Der russische Bauer spannt lange an. Aber dann fährt er schnell.“

Die Kriterien, nach denen Menschen der Macht zustimmen, sind in Russland anders priorisiert als bei uns: Ist Ordnung gewährleistet? Stabilität? Ist Russland ein respektiertes Land? Und erst dann: Wie ist meine wirtschaftliche Lage? Auch deshalb sollte „der Westen“ bei seiner Reaktion bedacht sein, entschlossen, aber nicht herablassend vorzugehen – nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen.

Keine Angst vor dem gemeinsamen Weg

Wie überhaupt sollte „der Westen“ auf die Entwicklungen in Russland reagieren, das Verhältnis gestalten zu diesem großen und – das sollten wir über allem Streit mit den Machthabern nie vergessen – wunderbaren Land mit so vielen großartigen Menschen, nicht nur jenen mutigen auf der Straße, sondern den vielen, die unter teils schwierigen Bedingungen ihr Leben meistern?

In angespannter Lage und ohne eine klare Perspektive auf eine Verbesserung sind wir, so meine ich, in der Vergangenheit gut und angemessen mit der Situation umgegangen – und sollten diesen Weg fortsetzen. Drei Elemente sollten unsere Politik prägen:

● Wo fundamentale, gemeinsam verabredete Prinzipien verletzt sind, welche die Menschen- und Bürgerrechte und am Ende das friedliche Miteinander gewährleisten, müssen wir reagieren. Die eingesetzten Mittel sollten politischer Natur sein, d.h. Maßnahmen sollten reversibel sein und die Bedingungen bekannt, unter denen sie wieder verschwinden können.

Indem die Europäische Union zuletzt Personen sanktionierte, die für Nawalnys Schicksal verantwortlich sind, folgte sie genau dieser Linie. Wichtig ist Geschlossenheit unseres Handelns – und hier hat „der Westen“ noch manche Hausaufgabe zu erledigen.

● Wir dürfen nicht nachlassen, an die Kraft des Dialogs zu glauben – auch nicht in herausfordernden Zeiten wie diesen. Über die schwierige Konfrontation der vergangenen Jahre hinweg sind amerikanische und russische Diplomaten im Austausch über Fragen der Rüstungskontrolle geblieben. Die deutsche Außenpolitik hat dies in Moskau wie in Washington auch mit Nachdruck eingefordert.

Ergebnis: Wenige Tage vor seinem Auslaufen wurde Anfang Februar „New Start“ verlängert, der wichtige Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen. Wir brauchen das Gespräch über Fragen des Klimaschutzes, der internationalen Handelspolitik und plötzlich auch über die Bekämpfung von Pandemien. Und eines Tages eben auch wieder darüber, wo wir miteinander hinwollen und wie uns dies gelingen kann.

● Wo alle Politik sich so schwer tut, müssen wir noch stärker alle Instrumente nutzen, die uns so zahlreich zur Verfügung stehen, unser Verhältnis zu Russland positiv zu gestalten: den Wissenschafts- und den Kulturaustausch, den Handel und die Begegnung der Zivilgesellschaften. Damit halten wir unsere Länder und die Menschen beieinander und unterstreichen unser – ja ehrliches – Interesse, dauerhaft in Frieden und zu beiderseitigem Nutzen auf dieser großen eurasischen Landmasse miteinander leben zu wollen. Auch Russlands Interessen werden es eines Tages gebieten, wieder einen gemeinsamen Weg zu gehen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 2. März 2021 im Global Europe Blog der Bertelsmann Stiftung erschienen.

 

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