Belarus: Kein Fall für die Nato
Migranten in Belarus: Die EU kann sich behaupten, muss aber endlich ihr Asylrecht reformieren
Erst waren es nur die Nachbarstaaten, die davon sprachen, dass Alexander Lukaschenko Migranten „als Waffe“ einsetze und einen „hybriden Krieg“ führe. Inzwischen reden fast alle europäischen Spitzenpolitiker so, gleich welcher Partei: von Robert Habeck über Josep Borrell und Ursula von der Leyen bis hin zu Charles Michel. Es ist dann nicht mehr weit zu der Forderung baltischer und polnischer Politiker, die Nato einzuschalten.
Auch Donald Tusk, Oppositionsführer in Polen, hat diese Woche danach gerufen: Es sei Zeit für Konsultationen nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrags, sagte Tusk. Das ist die Vorstufe, um den Bündnisfall nach Artikel 5 auszurufen. Hier ist einiges durcheinandergeraten in der Aufregung über den jüngsten Ansturm auf die polnische Ostgrenze – sprachlich und gedanklich.
Die Menschen, die das Regime in Minsk in Marsch gesetzt hat, sind zweifellos Teil eines zynischen Erpressungsversuchs. In ihrer Hilflosigkeit, eingezwängt zwischen Beamten im Niemandsland der grünen Grenze, gleichen sie Geiseln, die nicht mehr Herr ihres Schicksals sind. Aber Waffen, die Zerstörung anrichten und Menschen töten?
Das sind die Pseudotouristen aus Irak, Syrien und Afghanistan gewiss nicht. Es gibt auch keinerlei belastbare Hinweise darauf, dass Terroristen auf diesem Weg einsickern. Alles andere ist Propaganda polnischer Staatsmedien, die man sich nicht zu eigen machen sollte.
Was die hybride Kriegsführung angeht: Ja, es stimmt, dass Lukaschenko die Nachbarn mit Migranten flutet. Er hat das selbst offen zugegeben. Aber es geht ihm nicht darum, Territorium zu erobern, wie Russland es 2014 auf der Krim tat: mit „grünen Männchen“, die in Wahrheit Elitesoldaten waren.
Die Migranten, die das Regime zu Tausenden an die Grenze karrt, bedrohen nicht die „Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit“ der Nachbarstaaten – das wäre die Voraussetzung, um Artikel 4 des Nordatlantikvertrags zu aktivieren. Schon gar nicht sind sie ein „bewaffneter Angriff“ gegen ein Nato-Mitglied, der Artikel 5 auslösen könnte. Lukaschenko wehrt sich gegen Sanktionen, er will als Verhandlungspartner anerkannt werden; das ist alles.
Die EU muss endlich das Asylrecht reformieren
Dass der Machthaber in Minsk es trotzdem geschafft hat, solche Aufregung zu erzeugen, sagt mehr über seine Nachbarn als über ihn selbst. Die haben das Trauma von 2015 nicht bewältigt: Damals kamen Zehntausende am Tag – jetzt reichen schon Hunderte, um eine Europäische Union mit 450 Millionen Einwohnern in Panik zu versetzen.
Die 27 Mitgliedstaaten schieben seit Jahren die notwendige Reform des Asylrechts vor sich her. Nun ist eine Lage entstanden, in der jedes Land macht, was es für richtig hält. Die Grenzschutzagentur Frontex hat zwar ihr Hauptquartier in Warschau, wird aber nicht gefragt. Und Brüssel streitet darüber, ob Zäune und Mauern aus dem gemeinsamen Budget bezahlt werden sollen.
Es gibt keinen einfachen Ausweg aus dieser Krise, die ebenso sehr von Minsk verschuldet wurde, wie die Europäische Union dazu eingeladen hat. Dreierlei sollte aber klar sein:
Erstens darf die EU sich nicht erpressen lassen. Deshalb führt an Grenzbarrieren kein Weg vorbei. Es wäre auch rechtlich kein Problem, sie aus dem gemeinsamen Budget zu finanzieren, der entsprechende Haushaltstitel lässt das zu. Im Schengener Grenzkodex heißt es ausdrücklich, dass Grenzüberwachung dazu dient, illegale Einreisen zu verhindern. Das ist alles bestehendes Recht, dem Rat und Parlament zugestimmt haben.
Zweitens muss, was aus der gemeinsamen Kasse finanziert wird, auch gemeinsamen Normen entsprechen. Dazu gehört, dass es an einer Grenze reguläre Übergänge gibt und es möglich sein muss, dort um Asyl nachzusuchen – jedenfalls im Regelfall. Wenn ein Staat sich als Schleuser betätigt, sollten Ausnahmen erlaubt sein. Doch sollte darüber Frontex wachen; dazu gibt es ja eine gemeinsame Grenzschutzbehörde. Solange sich Warschau dagegen sperrt, kann es keinen legitimen Anspruch auf das EU-Budget erheben. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen würde gut daran tun, diesen Zusammenhang darzulegen, statt wolkig auf einen „Komment“ zu verweisen, dass Zäune und Mauern nicht aus der gemeinsamen Kasse bezahlt würden. Ein Komment ist kein Argument.
Drittens: Menschen, die mit Gewalt versuchen, EU-Grenzen zu überschreiten, dürfen pauschal zurückgewiesen werden. Das hat der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof für die spanische Exklave Melilla in Marokko entschieden. Es lässt sich auf andere Fälle übertragen, und es zeigt: Europa kann sich durchaus behaupten, ohne Recht brechen zu müssen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 14.11.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.