Aserbeidschan bedrängt Armenien
Wie Präsident Ilham Alijew mit Gewalt versucht, Dividenden aus seinem Kriegserfolg zu ziehen
Im Grenzgebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan sind am Dienstagnachmittag die heftigsten Gefechte seit dem Ende des Kriegs um Nagorni Karabach vor einem Jahr ausgebrochen. Aserbaidschanische Einheiten drangen offenbar auf armenisches Territorium in der Region der zentralarmenischen Stadt Sisian sowie weiter nördlich bei Wardenis vor, nahe der seit einem Jahr wieder zu Aserbaidschan gehörenden Region Kelbadschar (armenisch Karwadschar).
Von armenischer Seite war zunächst die Rede von 15 Toten. Später bestätigte das Verteidigungsministerium vorerst einen Gefallenen. 12 Armeeangehörige seien in aserbaidschanische Gefangenschaft geraten. Die armenischen Streitkräfte hätten zwei Stellungen verloren.
Seitens der Aserbaidschaner zirkulierten inoffizielle Zahlen über 14 Tote, 37 Verletzte und 5 Vermisste. In den Kämpfen kamen Artilleriegeschütze, Raketenwerfer und gepanzerte Fahrzeuge zum Einsatz. Das armenische Verteidigungsministerium veröffentlichte Bilder zerstörter Militärtechnik des Gegners. Es gab Aufrufe, sich als Freiwillige für den Kampf zu melden.
Armenien appellierte an die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, den Uno-Sicherheitsrat und das Militärbündnis Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Auch rief es Russland dazu auf, im Rahmen des 1997 abgeschlossenen Beistandspakts die territoriale Integrität zu schützen.
Russland vermittelte Waffenruhe
Die russische Militärbasis in der armenischen Stadt Gjumri wurde in Gefechtsbereitschaft versetzt. Nach einem Telefonat mit seinem erst am Vortag ins Amt gekommenen Kollegen Suren Papikjan konnte Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu eine Waffenruhe vermitteln. Das bestätigte das armenische Verteidigungsministerium am Abend des 16. November.
Aserbaidschan beschuldigte die Armenier, sie bei der Grenzbefestigung ihrer seit dem Kriegsende vor einem Jahr zurückerhaltenen Gebiete provoziert zu haben. Angesichts der Vorgeschichte der vergangenen Wochen und Monate sowie der Rhetorik der Aserbaidschaner gibt es wenig Zweifel daran, dass Aserbaidschan die kriegerische Auseinandersetzung vom Zaun brach. Präsident Ilham Alijew versucht seit der Waffenruhe im November 2020, weitere Dividenden aus seinem Kriegserfolg zu bekommen, und stichelt ständig gegen Armenien.
Bereits im Mai war es zu blutigen Konflikten um die bisher nicht demarkierte Grenzlinie gekommen. Im August blockierten die Aserbaidschaner zeitweise die wichtigere von zwei Nord-Süd-Verbindungen, die direkt auf der umstrittenen Grenzlinie verläuft. Vor wenigen Tagen richteten sie dort Zollposten ein und hindern die Armenier seither an der Durchfahrt.
Ein „Korridor“ quer durch Armenien
Alijews wichtigstes Ziel ist es, eine direkte Verbindung zwischen Aserbaidschan und seiner von Armenien, Iran und der Türkei umschlossenen Exklave Nachitschewan zu schaffen. Dafür will er einen „Korridor“ durch Armeniens südlichste Provinz Sjunik (auch Sangesur genannt) bauen. Entspricht dies zwar formal den Forderungen des Abkommens über die Waffenruhe vom 9. November 2020, wonach alle Kommunikationswege in der Region geöffnet werden sollen, sieht der aserbaidschanische Vorschlag eine extraterritoriale Bahnstrecke quer durch Armenien vor.
Diese würde das Land zweiteilen und ist deshalb für die armenische Führung unter Ministerpräsident Nikol Paschinjan inakzeptabel. Dies erst recht, weil Alijew immer wieder durchblicken lässt, er halte die gesamte Region Sangesur für aserbaidschanisches Territorium. Die seit einem Jahr laufenden Verhandlungen zwischen Russland, Armenien und Aserbaidschan zur Öffnung der Verkehrswege im Südkaukasus stocken.
Alijew sagte deshalb vor kurzem, wenn Armenien keine Zustimmung zu einem solchen Korridor gebe, werde Baku es dazu zwingen. Armenische Beobachter sahen darin die Drohung mit militärischer Gewalt.
Während Europa gebannt auf die Migrationskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze und einen mysteriösen russischen Truppenaufbau an der Grenze zur Ukraine blickt, versucht Baku, gewiss mit türkischer Rückendeckung, gegenüber dem armenischen Erzfeind Tatsachen zu schaffen. Das dürfte den innenpolitischen Druck auf Paschinjan zusätzlich verstärken.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 16.11.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung.