‚Sei still, Frau, dein Tag ist der 8. März‘
Viele Russen missverstehen den Internationalen Frauentag als Fest des Frühlings und der Liebe
In der Russischen gesellschaftlichen Kultur gibt es mindestens zwei Genderfeiertage. Als „männlicher“ Feiertag gilt der 23. Februar, ursprünglich der Tag der Roten Armee. Inzwischen werden an diesem Tag alle Männer gewürdigt, ob sie in der Armee waren oder nicht. Es gibt sogar Geschenke, oft Socken oder Parfums, worüber sich Männer immer lustig machen: Wieder Socken!
Der Internationale Frauentag für Gleichberechtigung und Freiheit ist zu einem Tag geworden, an dem Männer Frauen schöne Worte sagen, meist über die Sinnlichkeit und Schönheit der „Vertreterinnen des schönen Geschlechts“. Sie bekommen Geschenke, meistens Blumen. Wieder Blumen!
Der Sinn des Feiertags, wie ihn das breite Publikum zurzeit in Russland versteht, lässt sich in einem Scherz wiedergeben, den die Frau oft – ironisch? – zu hören bekommen: „Sei still, Frau, dein Tag ist der 8. März.“ Feministinnen und Feministen sind empört, aber vielen Menschen scheint das als ganz normal. Die Bedeutung des Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenstimmrecht initiierten Kampftags ist in Russland seit langem verwischt und eigentlich falsch verstanden.
Tag der Liebe oder Kampftag?
Nach Jahren des autokratischen Regimes der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion lehnten Bürgerinnen und Bürger seit Perestroika alles ab, was mit Kommunismus verbunden war. So verblasste offensichtlich auch die Idee hinter dem Frauentag, der zu einem Tag des Frühlings und der Liebe geworden ist. Anstatt einer Mimose wie zu sowjetischen Zeiten bekommen Frauen nun Tulpen und Rosen.
Die Tradition, gelbe Mimosen zu verschenken, kam aus Italien. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen dort drei Antifaschistinnen und Kommunistinnen (Teresa Noce, Rita Montagnana und Teresa Mattei) vor, die gelbe Blume als Symbol für die Befreiung der Frauen von männlicher Unterdrückung zu verwenden.
Der erste Frauentag war schon am 28. Februar 1909 in New York begangen worden. Es war die Idee einer Frau der Sozialistischen Partei Amerikas, der Frauenrechtlerin und Aktivistin Theresa Malkiel. Sie war Amerikanerin ukrainischer Herkunft. Suffragetten kämpften für Arbeitsgleichberechtigung und Wahlrecht für die Frauen.
Die Initiative fand schnell Gefallen in Europa. Auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen im August 1910 schlug die deutsche Kommunistin Clara Zetkin die Einführung des Internationalen Frauentags vor, allerdings ohne ein bestimmtes Datum. So wurde der Frauentag 1911 in Österreich, Deutschland, Dänemark und der Schweiz gefeiert.
Wieso der 8. März?
Das Datum 8. März hat sich erst später durchgesetzt, womöglich nach den Ereignissen in der Sowjetunion. Am 8. März 1917 (23. Februar nach dem julianischen Kalender in Russland) begannen Streiks der Mitarbeiterinnen der Newsker Fadenmanufaktur, einer Fabrik im armen Stadtviertel in Petrograd, (Sankt Petersburg) auf Wyborger Seite. Die Mitarbeiter des Putilowwerks (Putilowski Sawod) haben sich dem angeschlossen.
Diese Proteste gelten als Start der Februarrevolution in Russland. Um diese streikenden Frauen zu ehren, wurde auf der „Zweiten internationalen Konferenz kommunistischer Frauen“ 1921 der 8. März als internationaler Gedenktag vorgeschlagen. Institutionalisiert wurde der Tag 1975 durch Entscheidung der Vereinten Nationen (UN).
Keine Gleichberechtigung in Russland
Regelmäßig analysiert das Weltwirtschaftsforum die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in 153 Ländern nach vier Kriterien: Bildung, Gesundheit, politische Ermächtigung und wirtschaftliche Teilhabe. Im Global Gender Gap Report 2020 wurde Russland auf Platz 81 rangiert, Island, Norwegen und Finnland stehen an der Spitze der Liste.
Durchschnittlich, so der Bericht, sind Frauen in Russland besser ausgebildet als Männer und leben länger. Führende berufliche Positionen bekommen sie aber nur selten, außerdem sind sie finanziell benachteiligt. In der Politik gibt es am wenigsten Gleichstand: Niemals gab es eine Frau an der Spitze des Staats, im Parlament und in der Regierung gibt es nur wenige Frauen. Eine „gläsernen Decke“, so der Bericht, verhindere ihren Weg zu Machtpositionen in Politik und Wirtschaft.
Frauen haben viel weniger Rechte in Russland. Aber stört das jemanden? Nehmen das die Russen wahr, und erkennen sie das als Problem? Laut Umfragen nicht wirklich.
Nur 24 Prozent der Bürger halten ungleiche Chancen zwischen Männern und Frauen für wichtig, ergab 2019 eine Umfrage von Mikhailov und Partner. Etwa 42 Prozent der Männer sowie 27 Prozent der Frauen denken, dass dieses Problem „überhaupt nicht aktuell“ ist.
Eine Umfrage der Wahlforschungsgesellschaft Wciom im selben Jahr ergab überraschende Zahlen: 92 Prozent der Befragten glauben, dass Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen in Russland irrelevant seien.
Aber die Stimmen für Frauenrechte in Russland werden lauter. Aktivistinnen engagieren sich in vielen Feldern und werden langsam nicht nur in Russland bekannt. Am 3. März veröffentlichte das Time Magazine einen Artikel über Anna Rivina, Frauenrechtlerin aus Moskau, Leiterin der Frauenrechtsorganisation Nasiliu.net, die gegen häusliche Gewalt kämpft.
Auf diesem Weg ist sie nicht allein. Mittlerweile existieren in Russland viele NGOs die sich in vielen Bereichen für Frauen einsetzen.
Auf der politischen Ebene aber bleibt es eher konventionell. Die offizielle Internetseite des Moskauer Bürgermeisters schlägt als Veranstaltungsideen für den Internationalen Frauentag Abenteuerspiele und Laufen mit Blumen vor. Am 8. März, so die Seite, werden Freiwillige auf den Bahnhöfen, U-Bahn-Stationen und Straßen Frauen mit Blumen beschenken.
Aber ist ein Lauf mit dem Blumenstrauß das, was Frauen in Russland zurzeit brauchen?