Sehnsucht nach der Ukraine
Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine nimmt ab, die der Rückkehrer steigt
Von den sechs Menschen, die Ralph Schreieck im März bei sich im hessischen Karben aufnahm, sind nur drei in Deutschland geblieben. Schreiecks Frau ist Ukrainerin. Nach Kriegsbeginn flohen ihr minderjähriger Bruder, eine Schwester und die Schwägerin mitsamt Kindern zu ihnen.
Die Schwägerin hat kürzlich eine Wohnung in der Nachbarschaft gefunden, sie will in Deutschland bleiben. Der minderjährige Bruder geht seit einigen Wochen in Deutschland zur Schule. Aber die Schwester und ihre Kinder sind Anfang Mai zu ihrem in Lemberg gebliebenen Mann in die Ukraine zurückgekehrt. „Ich kann das nachvollziehen“, sagt Schreieck. Mehrmals hätten sie ihre Rückkehr geplant. Als sich der Krieg zunehmend auf den Donbass konzentrierte, hätten sie es gewagt.
Nach der Flucht stellt sich für viele Ukrainer schnell die Frage, wie es weitergeht. Die Antworten darauf sind, wie in Schreiecks Verwandtschaft, sehr unterschiedlich. Das liegt auch an der rechtlichen Freiheit, die Ukrainer hierzulande haben.
Vor Kriegsbeginn galt: Wer einen ukrainischen Pass besitzt und nach Deutschland kommt, darf sich 90 Tage ohne Visum frei im Land bewegen. Diese visumfreie Aufenthaltsfrist wurde jüngst verlängert. Ukrainische Flüchtlinge dürfen sich nun bis zum 31. August visumfrei in Deutschland aufhalten, unabhängig davon, wann sie eingereist sind.
Hinzu kommt, dass die EU Menschen mit ukrainischem Pass sowie Menschen, die eine gültige Aufenthaltsgenehmigung für die Ukraine haben, nach Kriegsausbruch den Status eines Kriegsflüchtlings gewährt hat. Dieser Status ermöglicht es den Vertriebenen unter anderem, einen Aufenthaltstitel zu beantragen. Damit haben sie Anspruch auf medizinische und Sozialleistungen.
Der Antrag kann gestellt werden, nachdem sich die Ukrainer bei den Ausländerbehörden registriert haben. Mit der offiziellen Aufenthaltserlaubnis können die Menschen gegenwärtig bis zum 4. März 2024 in Deutschland bleiben. Die Aufnahme funktioniert also ohne kompliziertes Asylverfahren. Es gilt erst einmal: Wer bleiben will, kann bleiben.
Nicht alle wollen bleiben
Doch bei Weitem nicht alle wollen das. So sieht es jedenfalls Manfred Becker, Leiter der Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten im Regierungspräsidium Gießen. Dort befindet sich Hessens Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber – Menschen aus der Ukraine zählen nicht dazu, sie müssen kein Asyl beantragen.
Einrichtungen wie die in Gießen sind aber zu Kriegsbeginn eingesprungen, um bei der Registrierung der Flüchtlinge auszuhelfen und sie im Land zu verteilen, sofern sie nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen. Wie Asylbewerber verteilt der Bund auch die ukrainischen Flüchtlinge nach dem „Königsteiner Schlüssel“ auf die Länder, basierend auf deren Steuereinkommen und Bevölkerungszahl.
Durchschnittlich bleiben die Menschen drei Tage in seiner Einrichtung, sagt Becker, dann werden sie einzelnen Landkreisen zugeteilt – allerdings nicht auf Dauer. „Viele wollen zurück, und viele sind auch wieder zurück“, sagt Becker. Seinem Eindruck nach ist es sogar die Mehrheit.
Viele Eltern setzten alles daran, dass die Kinder per Onlineunterricht weiter in der Ukraine zur Schule gingen. Teils arbeiteten die Geflüchteten online für ihre Arbeitgeber in die Ukraine weiter. „Das macht man ja nicht, wenn man hierbleiben will“, sagt Becker. Oft seien die Männer der Familien zurückgeblieben, schon wegen der Wehrpflicht in der Ukraine. Der Wunsch nach Wiedervereinigung sei groß.
Wie groß die Zahl derer ist, die schon jetzt wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind, ist unklar. Die Bundespolizei erhebt keine Daten über die Rückkehr von Ukrainern oder mögliche Weiterreisen in andere EU- und Schengenstaaten. Auch die Bundesländer führen dazu keine Statistik. Das UN-Flüchtlingshilfswerk geht davon aus, dass seit Kriegsbeginn rund sieben Millionen Menschen das Land verlassen haben und etwa 2,1 Millionen Menschen wieder zurückgekehrt sind.
Beliebtestes Fluchtziel: Berlin
Laut Bundesinnenministerium sind bis Anfang Juni 2022 etwa 820 000 Menschen nach Deutschland geflohen, wie viele sich davon noch im Land aufhalten, ist unklar. Eine Befragung des Bundesinnenministeriums Anfang April ergab, dass etwa 32 Prozent der Geflüchteten damit rechnen, bald in die Ukraine zurückzukehren zu können.
Auch die offizielle Zahl der täglich ankommenden Flüchtlinge geht laut Bundesinnenministerium „seit geraumer Zeit“ zurück, insbesondere an den Grenzen zu Polen, zu Österreich und der Tschechischen Republik. In Bayern etwa kommen laut Innenministerium derzeit 550 bis 800 Menschen täglich an, zu Beginn des Kriegs verzeichnete das Bundesland täglich rund 2000 Ankünfte. Aus dem nordrhein-westfälischen Innenministerium heißt es, die Zahl der täglichen Neuankömmlinge bewege sich seit Mitte Mai „auf einem konstant relativ niedrigen Niveau“. Nur in Berlin, wo die meisten Menschen ankommen – seit Kriegsausbruch nach Angaben der Senatsverwaltung etwa 270 000 –, spricht man von einem „Ankunftsgeschehen auf stabilem Niveau“.
Laut Manfred Becker hat sich der Rückzug der russischen Armee um Kiew Anfang April unmittelbar auf die Flüchtlingszahlen ausgewirkt, zumindest in Hessen. Während im März durchschnittlich 300 Menschen täglich in Gießen ankamen, waren es im April knapp 90, im Mai nur noch etwa 80. „Wir müssen jetzt nur noch in Ausnahmesituationen am Wochenende arbeiten“, sagt Becker. Eine Zeit lang habe er sogar auf Helfer anderer Landesbehörden zurückgegriffen, das sei jetzt nicht mehr nötig.
Wie aussagekräftig die Zahlen sind, kann auch Becker nicht abschließend sagen. Von den rund 65 000 Menschen, die insgesamt nach Hessen kamen, sind laut ihm fast 50 000 nicht in Gießen, sondern unmittelbar und privat in den Kommunen angekommen, bei Verwandten und Freunden. Hinzu kommt die unbekannte Zahl derer, die sich bislang noch gar nicht registriert haben. Ähnlich heißt es aus Berlin: „Die Zahl der in der Stadt ankommenden Geflüchteten dürfte deutlich höher liegen als die Ankunftszahlen an den Bahnhöfen.“
Das scheint nicht nur in Berlin so zu sein. Die Umfrage des Innenministeriums Anfang April ergab, dass sich etwa 42 Prozent der Befragten in Großstädten aufhalten. An dieser Lage übt der Deutsche Städtetag Kritik. „Bund und Länder werden ihrer Verantwortung nicht gerecht“, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Die Städte seien bei der Unterbringung und Versorgung am Limit, während es andernorts ungenutzte Kapazitäten gebe.
Das passt zu den Angaben einzelner Bundesländer, wonach die Landesunterkünfte abseits großer Städte derzeit sehr unterschiedlich stark belegt sind. Die Belastungsgrenze ist dort kaum irgendwo erreicht.
Städte fühlen sich allein gelassen
Dedy bemängelt auch, dass die Städte derzeit auf etwa einem Drittel der Kosten für die Unterkünfte sitzen blieben. Der Bund stellt den Ländern insgesamt zwei Milliarden Euro zur Unterstützung der Kommunen zur Verfügung, 500 Millionen Euro davon für die Unterbringung. Auch dieses Geld wird nach dem Königsteiner Schlüssel aufgeteilt.
Der bayerische Anteil sei nicht ausreichend, betont etwa das bayerische Innenministerium. Andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen sehen bislang keinen Grund zur Klage. Ob weiteres Geld kommt, bleibt abzuwarten. Anfang November wollen Bund und Länder über mögliche neue Regelungen für das kommende Jahr beraten.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 9.6.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.