Krieg in der Ukraine

Putin: Er weiß, dass er lügt

Was Turgenjew lehrt und warum Putin mit Klitschko in den Ring steigen sollte

von Hans Christoph Buch
Putin Klitschko
Unser Autor hat die Münchner Demonstranten erhört: Putin soll mit Klitschko kämpfen, Mann gegen Mann.

Mariupol ist das Guernica des 21. Jahrhunderts, und das Nichtstun des Westens – damals England und Frankreich, heute Nato und EU – ist schon jetzt schwer zu ertragen. Ob die Tragödie dieser Stadt – man könnte auch Charkiw oder Kiew nennen – zum Menetekel wird für die Ausweitung des Kriegs, muss sich zeigen. Doch es stimmt nicht, dass die EU-Kandidatur der Ukraine eine Kriegserklärung an Russland darstellt, im Gegenteil. Ist doch Frieden um jeden Preis die Stärke und Schwäche der EU, die aus der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich die richtige Lehre zog: Kooperation statt Konfrontation.

Unterdessen zerbricht die internationale Gemeinschaft sich darüber den Kopf, wie Putin tickt und was genau er im Schilde führt. Die Antwort findet sich an einem unerwarteten Ort, in der russischen Literatur, die der deutsche PEN durch Nichtachtung abstrafen will – ein Beispiel mehr für die Dummheit der Intellektuellen.

In Turgenjews „Aufzeichnungen eines Jägers“ wird ein aus der Leibeigenschaft entlassener Bauer so charakterisiert: „Er ist erfahren, weiß, was er will, ist weder böse noch gut, eher berechnend, vorsichtig und gleichzeitig unternehmend wie ein Fuchs, wird sich aber niemals verplappern, sondern jeden anderen aushorchen. Ich habe nie durchdringendere und klügere Augen gesehen, nie unbefangen und offen, stets lauernd und forschend.“

Wladimir heißt wörtlich übersetzt  „beherrsche die Welt“, so wie Wladiwostok  „beherrsche den Osten“ bedeutet, und an anderer Stelle nimmt Turgenjew die Brandrede vorweg, in der Putin der angeblich nicht existierenden Ukraine den Krieg erklärt, der bekanntlich nur eine Spezialoperation ist: „Er weiß, dass er lügt, und glaubt selbst an seine Lügen: eine Art von Sinnesrausch und dichterischem Entzücken kommt über ihn – es sind keine einfachen Lügen, keine bloßen Prahlereien mehr, die er von sich gibt. Er ist von sich selbst überzeugt.“

Faszinierender als das Gute: das Böse

Von jeher waren die Bösen faszinierender als die Guten – Lady Macbeth und Mephisto sind Paradebeispiele dafür. In der westlichen Welt gibt es positive Helden wie Franz Beckenbauer oder Muhammad Ali nur noch im Sport.

Damit sind wir mitten im Thema, denn die Klitschko-Brüder sind nicht nur erfolgreiche Box-Champions, sondern mutig und intelligent noch dazu. Putins Überfall hat sie an die politische Front katapultiert, wo sie mehrsprachig und beredt, mal mit Boxhandschuhen, mal mit Blumen, ihre Heimat verteidigen – ohne Angst vor dem Tod.

Noch spektakulärer, falls es diese Steigerung gibt, ist die Karriere von Wolodymyr Selensky, der vom Stand-up-Comedian zum Staatschef der Ukraine wurde und den Widerstand, zu dem er aufruft, glaubhaft verkörpert in seiner Person, was man vom Gegenspieler im Kreml so nicht sagen kann. Auf Putins Mordliste steht Selensky ganz oben, obwohl oder weil er Drohungen nicht mit gleicher Münze beantwortet, sondern wie Charlie Chaplin in der Schlussszene des „Großen Diktators“ mit dem Appell an Menschlichkeit, Mäßigung und Vernunft.

Wladimir Putin könnte Russen wie Ukrainern sinnlose Leiden ersparen, wenn er gegen seinen Vornamensvetter Klitschko zum Zweikampf anträte, Mann gegen Mann. Vielleicht gewinnt er dabei den schwarzen Gürtel zurück, den die Judo-Föderation ihm inzwischen aberkannt hat.

Hans Christoph Buch lebt als Schriftsteller und Publizist in Berlin. Zuletzt ist im Transit-Verlag erschienen: „Nächtliche Geräusche im Dschungel – postkoloniale Notizen“. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 28.3.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung