Ukraine

Ostukraine: Erstaunlich entspannt

Fürchten die Menschen rund um Charkiw einen russischen Überfall? Anscheinend nicht

von Gerhard Gnauck
Charkiw, Osturkaine

Kurz vor der russischen Grenze, von Feldern umgeben, steht an der Fernstraße das letzte Gasthaus. Das Motel „Otschag“, frei übersetzt „heimischer Herd“, hat sechs Gästezimmer und eine Banja, ein Dampfbad. Vor dem Gebäude steht das dazugehörige Café. Hinter dem Tresen steht Ljubow Iwaniwna, die Besitzerin.

Wie gehen die Geschäfte? „Schlecht“, sagt sie. Vor 27 Jahren hatten ihr Mann und sie sich diesen Ort ausgesucht und zunächst eine Schaschlik-Bude aufgestellt. „Die Lage war ideal“, sagt die zierliche Frau, „750 Kilometer nördlich liegt Moskau, 750 Kilometer südlich liegt die Krim, und wir genau in der Mitte.“

Jahrelang gingen die Geschäfte gut. Die Halbinsel Krim war für Russen wie Ukrainer einer der beliebtesten Urlaubsorte überhaupt. Dann kam das Jahr 2014. „Die Krim haben sie weggenommen, die Grenze haben sie zugemacht, erst wegen des Kriegs, dann wegen Corona“, seufzt die Chefin. Seit sieben Jahren habe bei ihr kein Russe mehr übernachtet. „Unser Leben teilt sich ein in die Zeit vor und die Zeit nach 2014. Und jetzt rutschen wir langsam in den Abgrund.“

Zu politischen Fragen will Ljubow Iwaniwna sich nicht äußern, das ist nicht ihr Ding. Aber die halbe Welt diskutiert über Putins Drohungen gegen die Ukraine. Glaubt sie, dass bald „die Russen kommen“, diesmal mit Panzern?

Ein langgezogenes „Njeeet“ ist ihre Antwort. „Nein, diesen Spannungszustand haben wir jetzt doch schon seit sieben Jahren.“

In der Stube sitzt derweil ein junger Mann mit Kopfhörern und starrt angestrengt auf seinen Laptop. „Das ist Kyrill, mein einziger Enkel“, sagt Ljubow Iwaniwna. „All unsere Hoffnungen ruhen auf ihm. Er studiert im dritten Jahr Jura, und seit diesem Herbst hört er samstags auch Vorlesungen am Lehrstuhl der Militärwissenschaft.“ Wer das absolviert hat, kann im Falle einer Einberufung Offizier werden.

Landesverteidigung und das „Projekt Mauer“

Stimmt es, dass die Armee der Ukraine, bis 2014 eine völlig marode Truppe, inzwischen zu einem soliden Arbeitgeber geworden ist? „Ich würde da trennen zwischen Geld und Landesverteidigung“, sagt die Frau bestimmt. „Natürlich ist es gut, wenn Geld da ist. Aber die Landesverteidigung“, sagt sie lächelnd, „die muss man hier haben.“ Bei diesen Worten tippt sich Ljubow Iwaniwna, die Unpolitische, mit der rechten Hand links an die Brust. Dorthin, wo das Herz schlägt.

Sie lebt im Nordosten der Ukraine, nicht weit von der Millionenstadt Charkiw. Wer dort losfährt, kommt an einem Massengrab von Regimegegnern aus der Stalinzeit vorbei, erreicht dann den „Heimischen Herd“ und wenige Minuten später den Grenzübergang. Früher herrschte dort reger Verkehr. Dann, 2014, begann die russische Aggression.

Ljubow Iwaniwna hat die ukrainischen Panzerwagen gesehen, die monatelang die Stellung hielten, auch wenn hier zum Glück nicht gekämpft wurde. Später kamen Lastwagen und brachten Baumaschinen, Sand und Baumaterial.

Um Überraschungen wie auf der Krim zu verhindern, ließen Behörden und Großunternehmer in mehreren Grenzregionen sogenannte Panzergräben ausheben. 2015 nahm die Regierung das „Projekt Mauer“ in Angriff, wie es im Volksmund heißt: Auf 1500 Kilometern sollte die ukrainisch-russische Grenze für umgerechnet etwa 130 Millionen Euro mit Gräben, Sperranlagen und Videoüberwachung versehen werden. Im Oktober wurde berichtet, 403 Kilometer Gräben und 100 Kilometer Metallzaun seien fertig. Hier bei Charkiw steht jetzt ein solcher Zaun.

Visapflicht für einreisende Russen?

Aber den Grenzübergang gibt es auch noch, geschlossen ist er nicht. Vierzig Lastwagen stehen heute regungslos in der Warteschlange. Einige Taxis warten auf Kundschaft, aber die Hälfte der Wechselstuben am Übergang hat dichtgemacht. Auch hier gehen die Geschäfte schlecht.

Die Zahl der Grenzgänger liegt bei zehn Prozent dessen, was vor 2014 üblich war. Nur alle paar Minuten fährt ein Auto oder laufen zwei, drei ältere Frauen, mit Paketen bepackt, durch die gestaffelten Grenzanlagen. „Wir besuchen unsere Verwandten“, sagen sie.

Bis 1991, als die Sowjetunion sich auflöste, gab es hier keine Grenze. Russland und die Ukraine, nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft die zwei größten Sowjetrepubliken, waren damals eng miteinander verflochten. Ein Doppeladler, von dessen Köpfen der eine nach Westen und der andere nach Osten schaute.

Auch die unabhängige Ukraine blieb noch für lange Zeit der weltweit größte Abnehmer russischen Erdgases, und Russland war für das Nachbarland der wichtigste Handelspartner. Aber nach und nach wurden die Bande schwächer, und der Krieg ließ dann fast jede Zusammenarbeit zur Sicherheitsfrage werden. Erst im November forderten 25 000 Ukrainer mit einer Petition die Einführung der Visapflicht für einreisende Russen. Die Regierung hat versprochen, den Antrag zu prüfen.

Olexandr Krywokon kennt die wirtschaftlichen Probleme der Industriemetropole Charkiw. Der 56 Jahre alte Manager leitet das Flugzeugwerk ChDAWP. „Früher kamen 60 bis 70 Prozent der Teile für unsere Flugzeuge aus Russland. Dann kam der Krieg, und die Ukraine wollte nicht mehr ihren Gegner finanzieren. Jetzt suchen wir auf anderen Märkten nach diesen Teilen.“

Heute stehen bei ihm, so klagt er, zwanzig halbfertige Antonow-Passagierflugzeuge, die er nicht fertigstellen kann. Der Umsatz des Werks sei in diesen sieben Jahren um 90 Prozent gesunken, die Belegschaft von etwa 9000 auf 1220 geschrumpft. „Und die Regierung in Kiew spielt jetzt mit dem Gedanken, Flugzeuge von unserem Konkurrenten Airbus zu kaufen.“

Darüber ist Krywokon nicht glücklich. „So sieht also Europas Hilfe aus. Jeder will nur Geld verdienen.“ Mit einem Blick auf die russischen Drohungen sagt er: „Aber jetzt müssen wir unser Land retten. Wenn die Russen erst mal in Berlin sind, dann brauchen wir auch keine Flugzeuge mehr.“

Krywokon war als junger Sowjetsoldat in Afghanistan; er hat von der russischen Herrschaftsweise keine gute Meinung. „Ich will nicht, dass meine Kinder eines Tages in einem Teil Russlands leben. Wir waren für die doch immer Menschen zweiter Klasse.“ Sollte Russland angreifen, so denkt er, müsse die Ukraine „eine Woche durchhalten“; dann würden andere Länder mit Waffenlieferungen zu Hilfe kommen.

Dass die Ukraine mit ihrer 200 000-Mann-Armee einer russischen Übermacht standhalten könnte, hält der Stadtverordnete Ihor Puschkarjow für möglich. Er gehört zur Partei „Europäische Solidarität“, einer Partnerpartei der EVP. „Die bloße Zahl der Soldaten ist heute nicht mehr so wichtig, wichtiger sind Motivation, Erfahrung und Ausrüstung. Nur wenn Russland seine Luftwaffe einsetzt, würde es für uns sehr schwierig werden.“

Erfahrung hat der frühere Unternehmer: 2014 ging er für drei Jahre zu einem Freiwilligenbataillon der Polizei, das auch in der Ostukraine eingesetzt war. Freiwillige spielten damals eine große Rolle und sollen es offenbar wieder tun: Am 1. Januar wird ein mit großer Mehrheit verabschiedetes „Gesetz über die Grundlagen des nationalen Widerstands“ in Kraft treten, das der Armee 11 000 Freiwillige als neue Soldaten zuführen soll. Im Fall eines russischen Einmarschs sollen sie überall im Land aktiv werden.

„Manchen Männern macht das Kämpfen auch Spaß“

Puschkarjow sagt: „Viele Männer hier denken folgendermaßen. Wenn die ersten Schüsse fallen, bringen wir erst unsere Familien in Sicherheit, wir schicken sie in die Westukraine, und dann greifen wir zu den Waffen. Und ich sage Ihnen“ – er grinst – „manchen Männern macht das Kämpfen auch Spaß.“ In Charkiw, wo das russische Staatsfernsehen im Norden der Stadt mit der Zimmerantenne zu empfangen ist, kommt die ES bei Wahlen nicht über zehn Prozent.

Es gibt in dieser Stadt auch Sympathien für Russland. Die Mehrheit aber wählt Leute wie den vor kurzem ins Amt gekommenen Bürgermeister Ihor Terechow von der Partei „Erfolgreiches Charkiw“. Zu der großen Frage, ob denn eine russische Invasion bevorstehe, sagt er am liebsten gar nichts, schon gar nicht gegenüber einer ausländischen Zeitung. Warum schweigt der Stadtvater?

Die Medienwissenschaftlerin Lidia Starodubzewa von der örtlichen Universität glaubt: „Er ist so vorsichtig, weil er mit ukrainischen patriotischen Bekenntnissen die eine Hälfte der Stadt gegen sich aufbringen würde. Und würde er Sympathie für Russland zeigen, hätte er die andere Hälfte der Stadt gegen sich.“

Ein Politiker seiner Partei, Serhij Tschernow, sieht das etwas anders: Halbe-halbe seien die Sympathien bis 2014 gewesen. Heute, nach dem jahrelangen Stellungskrieg in der Ostukraine, hätten sich die Gewichte verschoben: Drei Viertel der Charkiwer seien jetzt pro-ukrainisch.

Als wollte die Stadt demonstrieren, wie patriotisch sie ist, wurde im August im Zentrum ein 102 Meter hoher Fahnenmast aufgestellt – angeblich der höchste in Europa. Dort weht seitdem, weithin sichtbar, eine 22 Meter lange blau-gelbe Flagge.

Russischer Überfall? In Charkiw kein Thema

Dass sich die Bürger heute mit ihrem Staat und mit „Europa“ als Ziel stärker identifizieren als noch vor zehn Jahren, scheint klar zu sein. Russland hat viele Sympathien verspielt. Aber die ganz große Angst ist in Charkiw bisher nicht ausgebrochen. Ein russischer Überfall ist für viele kein Thema.

Der derzeit wohl bekannteste Charkiwer, der Schriftsteller Serhij Zhadan, wundert sich etwas darüber: „Es ist schon paradox. Die ganze Welt redet über die Ukraine und ihre Gefährdung, nur die Ukrainer selbst reden kaum darüber.“

Manche ignorierten das Thema Krieg bewusst. „Das heißt nicht, dass wir entspannt sind. Wir sind eher ständig mobilisiert. Vor sechs, sieben Jahren schwirrten ständig Informationen durch den Raum: ‚Nächsten Montag sind die Russen in Charkiw.‘ Alle saßen auf gepackten Koffern, doch sie kamen nicht. Aber sollten sie kommen, wie 2014, werden viele zur Waffe greifen oder als Aktivisten die Landesverteidigung unterstützen.“

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 19.12.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

 

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