Nawalny

Nawalny & Co: Es gärt auch in der Provinz

Tschuwaschien: Nawalnys Anhänger sollen plötzlich ‚Extremisten‘ sein, aber sie lassen sich nicht einschüchtern

Die Opposition ist überall, auch in Tschuwaschien.

Den Moment, als das Glas der Balkontür splitterte und die Zivilfahnder plötzlich im Wohnzimmer standen, übertrug Semjon Kotschkin live im Internet. Das war am 22. Januar, einen Tag vor den für ganz Russland angekündigten Protesten zur Freilassung des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Sie waren auch in Tscheboksary geplant, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschuwaschien an der Wolga. Es wurde eine der größten Demonstrationen, die die Stadt in jüngerer Zeit erlebt hatte.

Kotschkin verpasste die Aktion; fast einen Monat verbrachte er im Polizei-Arrest. Bis vor kurzem war er Nawalnys Mann in Tscheboksary, Leiter der regionalen Niederlassung des Antikorruptions-Aktivisten. Ende April musste er sie auflösen. Nawalnys Organisationen sind als „extremistisch“ eingestuft worden; schon während des Gerichtsverfahrens wurde ihnen jede Tätigkeit untersagt. Ist das das Ende oppositioneller Arbeit in Russlands Regionen?

Plötzlich „Extremist“

Tscheboksary ist eine Stadt mit rund 450 000 Einwohnern, gelegen direkt an Russlands mythischem Strom. Die Wolga ist hier so breit wie ein See. Flussabwärts, knapp in Sichtweite der renovierten Uferpromenade, steht die Staumauer des Wasserkraftwerks, das in der Endphase der Sowjetunion errichtet wurde. Die Stauung überspülte nicht nur die Sandbänke und Mäander der Wolga. Auch das an der Mündung des schmalen Flusses Tscheboksarka gelegene historische Stadtzentrum verschwand im Wasser. Nur ein kleiner Teil der Altstadt blieb erhalten. Seither liegt Tscheboksarys Roter Platz an einer Bucht.

Semjon Kotschkin, 1993 in einer tschuwaschischen Kleinstadt geboren, ist im vergangenen Jahr über Tscheboksary hinaus bekannt geworden. Als einer der wenigen Anhänger Nawalnys wurde er zu einer Wahl zugelassen. Er kandidierte für einen Sitz im Stadtparlament und versuchte den Widrigkeiten zu trotzen. „Meine Kampagne war die auffälligste von allen in Tscheboksary“, sagt er im Rückblick.

Gereicht hat es trotzdem nicht. Die Konkurrenz der Kreml-Partei Einiges Russland war stark; Kotschkin vermutet, ein Opfer des Wahlprozederes geworden zu sein. Dass sich der Urnengang über mehrere Tage erstreckte, ließ Spielraum für allerlei Manipulationen.

Eigentlich hätte der Oppositionspolitiker diesen September für das Parlament Tschuwaschiens oder sogar für die Staatsduma in Moskau kandidieren wollen. Aber vor kurzem verlor er für ein Jahr das passive Wahlrecht. Ein Gericht hielt letztinstanzlich drei seiner Einträge in sozialen Netzwerken für extremistisch. Kotschkin findet den Vorwurf lächerlich. In drei unterschiedlichen Zusammenhängen tauchte jeweils kurz das Signet der für „unerwünscht“ erklärten Organisation Offenes Russland des einstigen Erdölmagnaten Michail Chodorkowski auf.

Das reichte für eine Verurteilung, die Kotschkins Ambitionen erst einmal begräbt. Und wegen des Bannstrahls gegen die „Stäbe Nawalnys“ drohen ihm weitergehende Beschränkungen. Die Duma verabschiedete eine Gesetzesvorlage, die Führungskräften wie auch Mitarbeitern, Unterstützern und Sponsoren „extremistischer“ Organisationen die Wählbarkeit für bis zu fünf Jahre ebspricht und rückwirkenden Charakter hat.

Mit Videos Missstände aufdecken

Ein Zurück gibt es ohnehin nicht mehr. Der „Stab Nawalnys“ in Tscheboksary ist aufgelöst, Kotschkin, seine Stellvertreterin Anastasia Wasiljewa und zwei weitere ehemalige Mitarbeiter sind erst einmal ohne Arbeit. „Wir wirkten hier wie eine ganz normale Partei“, sagt Kotschkin bei einem späten Frühstück in einem auf sowjetische Küche spezialisierten Café nahe der Universität.

Nawalny war es gelungen, mit seinen im Zuge der Präsidentschaftskampagne 2017/18 in zahlreichen Regionen eröffneten „Stäben“ Stützpunkte im ganzen Land zu etablieren. Die Gründung einer eigenen Partei wurde ihm immer wieder verwehrt. Dank jungen Enthusiasten wie Kotschkin und Wasiljewa entwickelten sich die Niederlassungen aber schnell zu Kristallisationspunkten oppositionell Gesinnter. Beide hatten Erfahrung als politische Aktivisten: Sie hatten den Ableger der Petersburger Gruppe „Wesna“ (Frühling) aufgebaut, die mit Aktionen im öffentlichen Raum für Aufsehen sorgte.

Nawalnys Leute in der Provinz profitierten von der organisatorischen Unterstützung des Hauptquartiers in Moskau. Sie orientierten sich an dem, was Nawalnys Truppe besonders gut beherrscht: Probleme aus dem Alltag aufzugreifen und medial professionell zu bearbeiten. Auch der Sportpädagoge Kotschkin, früher als Skilangläufer erfolgreich, wurde mit seinen Youtube-Videos und Recherchen bekannt.

Als sich 2019 Dorfbewohner gegen chinesische Investoren wehrten, die unter unklaren Umständen eine große Milchverarbeitungsfabrik errichten wollten, war er mit seiner Kamera als Erster da. Der Zwist erschütterte ganz Tschuwaschien; die Fabrik wurde bis heute nicht gebaut. Kotschkin sagt, seine Gruppierung habe über die größten Youtube- und Telegram-Kanäle verfügt. „Jetzt haben wir diese Ressourcen verloren.“

Politische Milde in Tschuwaschien?

Alexander Below hält das politische Klima in Tschuwaschien für milder als anderswo. Der 67-Jährige ist ein Veteran des Journalismus in der Teilrepublik und ein entsprechend langjähriger Beobachter der örtlichen Politik. Nach Jahren in führenden Positionen bei der Regierungszeitung Sowjetskaja Tschuwaschija leitet er heute die für Tschuwaschien, Nischni Nowgorod und Baschkortostan zuständige Redaktion der privaten regionalen Internetzeitung Prawda-PFO.

Vor zwei Monaten lud er Kotschkin und Inna Isajewa, eine örtliche Abgeordnete der Staatspartei Einiges Russland und Schuldirektorin, zu einer Debatte auf seinem Youtube-Kanal ein. So eine Diskussion auf Augenhöhe zwischen einer Vertreterin von Einiges Russland und einem Nawalny-Repräsentanten wäre nicht in jeder russischen Region möglich, meint Below. Das gelte auch für die Zulassung von Kotschkins Kandidatur im vergangenen Herbst.

17 Jahre lang, von 1993 bis 2010, prägte Nikolai Fjodorow, zeitweilig Justizminister unter Präsident Boris Jelzin, als Republikoberhaupt die Geschicke Tschuwaschiens. Im Unterschied zu anderen sogenannten nationalen Republiken, wo die Titularnation nur eine Minderheit darstellt, machen die Tschuwaschen hier knapp 70 Prozent der Bevölkerung aus. Fjodorow, wie seine Nachfolger ein ethnischer Tschuwasche, gehörte zu jenen „Regionalfürsten“ an der Wolga, die sich unter Jelzin so viel Macht wie möglich geholt hatten und sich nach Wladimir Putins Amtsübernahme im Jahr 2000 gegen das wieder erstarkende Moskau laut wehrten.

Sein Nachfolger Michail Ignatjew war weniger geschickt und verdarb es sich mit vielen. Er habe Tschuwaschien geschadet, findet Kotschkin, und zehn Jahre Stagnation gebracht. Auf der Suche nach gutbezahlter Arbeit zieht es viele nach Moskau – zweieinhalb Stunden Flug oder eine Nacht im Zug für Gehälter, die das Vielfache der in der Republik möglichen Einkommen ausmachen, erleichtern die Entscheidung. Die Familie bleibt oft in Tschuwaschien.

Die ständigen Skandale um Ignatjew und seine Umgebung boten Alexander Below fast unerschöpflichen Stoff für seine Berichterstattung. Viele Leser beklagten sich nun, Prawda-PFO sei langweilig geworden und er ein braver, unkritischer Journalist, erzählt Below. Dabei hätten sich doch nur die Wogen in der Politik etwas gelegt, seit die Führung der Teilrepublik gewechselt habe. Er hält sich zugute, durch seine Berichte über zwei Skandale Ignatjews, die das Fass zum Überlaufen brachten, am Sturz des mittlerweile verstorbenen Republikoberhaupts beteiligt gewesen zu sein.

Druck auf die Opposition

Kotschkin teilt die Meinung, Tschuwaschiens Politik sei von einer erstaunlichen Konkurrenz innerhalb des herrschenden Systems gekennzeichnet. Das zeigt sich auch an Ignatjews Nachfolger, Oleg Nikolajew. Der frühere Duma-Abgeordnete entstammt nicht der Kreml-Partei Einiges Russland, der stärksten Kraft in der Republik, sondern der viel kleineren Gruppierung Gerechtes Russland. Sie ist dem Kreml gegenüber loyal, gilt aber formal als „Oppositionspartei“. Dadurch habe das neue Republikoberhaupt früher selbst erlebt, was es bedeute, schikaniert und unter Druck gesetzt zu werden, glaubt Below.

Im neuen Amt holte Nikolajew Berater anderer Parteien zu sich. Er muss sich jetzt mit den Vertretern von Einiges Russland arrangieren, die darüber schockiert waren, dass ihnen ein Parteifremder vor die Nase gesetzt wurde.

Als mild würde Semjon Kotschkin das politische Klima in seiner Heimat gleichwohl nicht bezeichnen. Die Proteste des Winters wurden mit viel Polizei unzimperlich aufgelöst. Er selbst und seine früheren Teammitglieder werden politisch verfolgt. Bei der Hausdurchsuchung in der elterlichen Wohnung von Anastasia Wasiljewa nahmen die Beamten auch die elektronischen Geräte der Eltern und gespartes Bargeld der Mutter mit. Gleichwohl bekam Kotschkin nach dem aufsehenerregenden Eindringen der Fahnder über seinen Balkon Unverständnis und Mitgefühl bei politischen Konkurrenten von Einiges Russland zu spüren. Die Kampagne gegen die Nawalny-Mitstreiter wird zentral gesteuert.

Wie Kotschkin will auch Wasiljewa nicht aufgeben. „Es ist schwierig, sich vorzustellen, die vergangenen drei Jahre seien umsonst gewesen“, sagt sie. Offenbar hätten sie so gut gearbeitet, dass das Regime sie nicht habe ignorieren können. Und Kotschkin meint: „Die Leute, die uns unterstützt haben, sind ja nicht einfach weg.“ Diese wüssten, was vor sich gehe im Land, und seien politisiert. „Die Schließung der Stäbe ändert daran überhaupt nichts“, ist Wasiljewa überzeugt.

Anfang Juni veröffentlichte Kotschkin ein neues Video über Verfehlungen in der kommunalen Wohnbaupolitik. Er und sein Team wollen weitermachen und von der Vorarbeit profitieren – auf eigene Faust und abhängig einzig von denjenigen aus der Region, die bereit sind, dafür zu spenden. Unabhängige Politik dürfe nicht aus Tschuwaschien verschwinden, findet Kotschkin. Als Sportler bewies er seine Ausdauer. Auch unter den harschen Bedingungen für oppositionelle Politiker im heutigen Russland gibt er sich nicht so schnell geschlagen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in Neue Zürcher Zeitung am 4.7.2021.

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