Krieg? Ist mir egal!
Putins Kriege sind den Leuten egal. Woher die emotionale Erstarrung der Russen kommt
Es gibt eine These, die für die liberale russische Opposition zu einem Credo geworden ist. Russland ist in zwei Teile gespalten: Es gibt zum einen das offizielle Russland als Staat, eine Art Oberflächen-Phantom, und zum andern das echte, bodenständige Russland, das im Verborgenen lebt und die autoritäre Ausrichtung des Putin-Regimes keineswegs teilt.
Darauf spielt auch der Name der Oppositionspartei Drugaja Rossija (Das andere Russland) an und ebenso der populäre Protest-Slogan „Wy nas dashe ne predstawljaete“, der in seiner Doppelbedeutung „Ihr kennt / Ihr vertretet uns doch gar nicht“ auch auf den Betrug bei den Dumawahlen zielt.
Die These vom zweifachen Russland stützt sich auf den Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991. Da ruhte ein Koloss fest in sich selbst, und plötzlich brach er zusammen, als wäre er aus Pappmaché. Unter den Trümmern kamen Menschen hervor, die ganz anders und der „Sache der Partei und der Regierung“ keineswegs so ergeben waren, wie es die sowjetischen Medien einst dargestellt hatten.
Die Armee weigerte sich, auf das eigene Volk zu schießen, der machtvolle KGB war wie gelähmt, die allmächtige KPdSU fiel zusammen wie ein Kartenhaus. Alle waren sie tatsächlich anders, und es blieb nur, dies anzuerkennen, die Uhren auf eine neue historische Zeit umzustellen.
Anpassung statt Widerstand
Dieses Bild einer friedlichen Revolution fast ohne Blutvergießen und Gewalt, die von historischen Kräften selbst vollzogen wird, wurde für die meisten russischen Intelligenzler emblematisch. Auf paradoxe Weise rechtfertigte es ihr Verhalten in der späten Sowjetzeit: Anpassung statt Widerstand gegen die Staatsgewalt, Politikverdrossenheit, Selbsterhaltung, Kollaboration.
Und tatsächlich: Man hatte keine Widerstandsbewegung wie die polnische Solidarnosc oder die antisowjetischen Untergrundbewegungen in der Ukraine oder Litauen, man formulierte keine alternative politische Agenda und erlangte trotzdem die Freiheit. Nicht weil man das Gefängnis zerstört hatte, sondern weil es unter dem eigenen Gewicht zusammengebrochen war.
In ungefähr dieser Gestalt sieht die Mehrheit der russischen Opposition den Moment des Transits vom Russland unter Putin zum Russland nach Putin. Wenn man fragt, warum die Gesellschaft kaum auf Wahlbetrug, Wirtschaftsverbrechen oder die widerrechtliche Aneignung der Krim reagiert, lautet die Antwort: Die Leute sind niedergeschlagen. Aber sobald wieder Tauwetter ist…
Auf der Grundlage der historischen Erfahrung soll man glauben, „Putins Mehrheit“ sei eine optische Täuschung. Und wenn die gegenwärtige russische Regierung falle, dann werde sich die Szene von 1991 wiederholen: eine Abkehr von der früheren Identität und ein Zusammenbruch der bisherigen politischen Strukturen.
Vergessen geht dabei, wie schnell sich in Russland nach 1991 autoritäre Strukturen und Herrschaftspraktiken regenerierten. 1993 befahl Boris Jelzin, das „rote“ Parlament mit Panzern zu beschießen, 1994 begann er einen Krieg in Tschetschenien und führte Russland zurück auf den Pfad imperialer Gewalt. Die Menschen akzeptierten es einfach.
Die Pandemie als Gradmesser
Es scheint, dass die betrüblichen Eigentümlichkeiten der politischen Ordnung im postsowjetischen Russland den systemischen Defiziten seiner gesellschaftlichen Moral erwachsen. Der „Grad an Moral“ einer autoritär regierten Gesellschaft lässt sich schwer messen. Aber die Extremsituation der Corona-Krise wirkt wie ein Entwicklerbad und macht vieles erst richtig erkennbar.
Die Pandemie führte zu einem paradoxen Effekt: Die Staatsorgane und die liberale Öffentlichkeit fanden sich als Befürworter der Schutzmaßnahmen unerwartet in einem Lager wieder – gegen eine Mehrheit, welche die Gefahr des Virus leugnete oder sie herunterspielte und die Hygienemaßnahmen sabotierte.
Die Impfmuffel und Maskenverweigerer lassen sich kaum kategorisieren: ob Frau oder Mann, jung oder alt, reich oder arm; jeder kann es sein. Die Obrigkeit kapituliert notgedrungen und tut so, als habe alles seine Ordnung.
So hat sich in Russland eine erstaunliche Solidarität herausgebildet – die verquere Einigkeit derjenigen, die nach den Gesetzen der natürlichen Auslese zu leben bereit sind. Von Leuten, die einen Hang zur Verantwortungslosigkeit, zur Verschwörungstheorie, zur Leugnung von Fakten haben – nur um keine persönlichen Einschränkungen in Kauf nehmen zu müssen.
Bei ihnen sind die russischen Machthaber auf eine bisher unerkannte Grenze gestoßen: Ohne Anwendung direkter und unerbittlicher Gewalt ist diesen Leuten nicht beizukommen (und wenn, dann mit unsicherem Erfolg). In der UdSSR wäre eine Massenimpfung wahrscheinlich frag- und widerstandslos akzeptiert worden: Das ist der natürliche Vorteil totalitärer Systeme. Das Putin-Regime aber ist gezwungen, sich mit der Proteststimmung der Mehrheit zu arrangieren.
Verdrängen statt erinnern
Die historische Ironie der Situation liegt darin, dass die fehlende gesellschaftliche Solidarität und Empathielosigkeit stets die Stütze des Regimes war. Wie kein anderer vermag Putin, sich die Indifferenz der Menschen zunutze zu machen; sie hat ihn recht eigentlich groß gemacht. So stehen auch das Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial und die militärischen Drohgebärden gegen die Ukraine in tiefer Resonanz zu der Ablehnung der Corona-Maßnahmen.
Memorial, eine der ältesten und angesehensten NGO Russlands, war Ende der achtziger Jahre gegründet worden, um die stalinistischen Verfolgungen zu erforschen und das Gedenken an die Millionen von Opfern zu pflegen. Von Anfang an erkannte Memorial die Grenzen seiner Möglichkeiten und proklamierte daher auch den Verzicht auf die juristische Verfolgung der Verbrecher.
Stattdessen sorgte man dafür, dass an den Orten von Massengräbern Denkmäler und Mahnmale errichtet wurden, man erstellte Listen der Verfolgten und Ermordeten, es gab zivile Gedenkfeiern. Leider aber wurde Memorial nie zu einer Bewegung, die von der breiten Bevölkerung getragen wurde.
Nichtsdestoweniger ist Memorial als Hüter der Erinnerung an sowjetische Verbrechen für die Staatsgewalt ein Ärgernis. Putin begründet seine geopolitischen Ansprüche moralisch mit dem Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg und der daraus resultierenden globalen Vormachtstellung des Sowjetimperiums. Zu unterstreichen, dass das kommunistische System verbrecherisch war, ist deshalb ein Zeichen von Renitenz.
Die Ukraine ist kein Thema
Es ist bemerkenswert, dass die Zerschlagung des einzigen alternativen Gedächtnisses der Nation keine Massenproteste ausgelöst hat. Wie allerdings sollte man Empathie für die Toten einer fernen Vergangenheit erwarten, wenn es in Russland kaum Empathie für den Nächsten, den Nachbarn und den Mitbürger gibt? Der aggressive Aufmarsch russischer Truppen an den ukrainischen Grenzen wird von weiten Teilen der russischen Gesellschaft genauso wenig bemerkt wie die Liquidierung von Memorial.
Der seit 2014 andauernde hybride Krieg Russlands gegen die Ukraine wurde nie zum moralischen Angelpunkt der politischen Agenda der russischen Opposition. Selbst der führende Kopf der Opposition, Alexei Nawalny, wollte lieber nur die Korruption als maßgebliche Bedrohung für die europäische Sicherheit gelten lassen. Bewusst oder unbewusst vertrat er eine Wertehierarchie, die Wirtschaftsverbrechen höher gewichtet als die Bedrohung menschlichen Lebens.
Eigentlich kennen wir das alles von den Tschetschenienkriegen. Es wurden damals massive Kriegsverbrechen begangen, die wohldokumentiert sind; es leben noch jene, die Befehle erteilten, und jene, die sie ausführten. Aber keine oppositionelle Kraft hat jemals den Ruf nach Wahrheit und Gerechtigkeit erhoben. Die Opfer massenhafter „Säuberungsaktionen“ können nicht mit dem Mitgefühl der Russen rechnen.
In Kiew, unweit des Maidan, wo im Winter 2013/14 Menschen im Protest gegen das korrupte prorussische Regime von Wiktor Janukowitsch ihr Leben ließen, steht eine Mauer der Erinnerung. Daran hängen auch Fotos von ukrainischen Soldaten, die bei Gefechten mit russischen Soldaten und prorussischen Kämpfern in Donbass ums Leben kamen. Es waren ungefähr sechstausend.
Davor zu stehen, ist für mich fast unerträglich. Ich kann weder Blumen niederlegen noch weinen – ich bin Bürger des Lands der Aggressoren; ich weiß nicht, wie ich eine Schuld wiedergutmachen kann, die meine Mitbürger nicht anerkennen wollen, und ich glaube auch nicht, dass ein künftiger Präsident meines Lands hier auf die Knie sinken wird, wie es Willy Brandt einst am Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto getan hat.
Die allgemeine Gefühlskälte
Woher aber kommt diese tiefe russische moralische Blindheit und Taubheit, die Entfremdung der Russen von Vergangenheit und Gegenwart?
Der postsowjetische Mensch in Russland empfindet sich als Waisenkind der Geschichte. Der Zusammenbruch des Imperiums brachte nicht nur den Verlust des messianischen Status der russischen Nation, die brachialen Wirtschaftsreformen der neunziger Jahre fuhren ihm als Schock und Demütigung in die Knochen.
Vor und nach 1991 ging es ums Überleben, so dass der Sinn für Einfühlung und Mitleid, Erinnerung und Moral verkümmerte. Als „Unfähigkeit zu trauern“ haben Alexander und Margarete Mitscherlich die Weigerung der deutschen Nachkriegsgesellschaft beschrieben, sich mit dem Grauen der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Frage stellt sich für Russland, wie die Menschen einen Ausweg aus der emotionalen Erstarrung finden und wer der Geburtshelfer einer neuen Zeit sein wird.
Sergei Lebedew, Jahrgang 1981, gehört zu den maßgeblichen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschienen: Das perfekte Gift
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 16.2.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung / Aus dem Russischen von Franziska Zwerg.