Kommunisten sind vertrauenswürdiger

Warum Osteuropäer aufs Impfen verzichten und was das mit der Geschichte zu tun hat

von Kristen Ghodsee und Mitchell A. Orenstein

Als Europa in den vergangenen Wochen erneut zum globalen Epizentrum der Corona-Pandemie wurde, hat der Anstieg der Ansteckungen, der Krankenhauseinweisungen und der Todesfälle die Impfzurückhaltung einer Gruppe von Europäern besonders deutlich gemacht: derjenigen im ehemals kommunistischen Osten. Während mehr als 75 Prozent der Bürger der Europäischen Union vollständig geimpft sind, liegt der Anteil in Bulgarien bei 26 und in Rumänien bei knapp 40 Prozent.

In Ländern außerhalb der EU sind die Zahlen noch ernüchternder. Nur 20 Prozent der ukrainischen Bevölkerung und 36 Prozent der russischen Bevölkerung sind vollständig geimpft.

Was ist los mit Osteuropa? Mit einem Wort: Desinformation. Die Region wird von einer Flut an Falschmeldungen überschwemmt, ein Erbe des Vertrauensverlusts der Öffentlichkeit in staatliche Institutionen nach dem Kommunismus. Fieberhafte Verschwörungstheorien haben diese Länder wie ein Schatten des Coronavirus erfasst.

Eine ukrainische Ärztin fasste die Situation in ihrem Land unlängst so zusammen: „Falschmeldungen sind weit verbreitet und lassen die Leute an Mikrochips und genetische Mutationen glauben.“ Einige orthodoxe Priester hätten die Menschen offen und aggressiv dazu aufgefordert, sich nicht impfen zu lassen, und in den sozialen Netzwerken kursierten die absurdesten Gerüchte. „Die Ukrainer haben gelernt, allen Initiativen der Behörden zu misstrauen“, so die Ärztin. Bezüglich der Impfung sei das nicht anders.

Gefälschte Impfzertifikate und PCR-Tests

Nun, da die Zahl der Todesfälle neue Höchstwerte erreicht und die Angst wächst, steigen die Impfraten. Doch in vielen Ländern sind gefälschte Impfzertifikate und PCR-Testergebnisse weit verbreitet – so können in Bulgarien Impfzertifikate und Testergebnisse für 150 bis 300 Euro gekauft werden. Niemand weiß, wie viele dieser Dokumente im Umlauf sind.

Sogar diejenigen, die erleben mussten, wie Freunde sterben, beharren immer noch darauf, dass Impfstoffe gefährlich seien, weil sie Nanoroboter enthielten oder die DNA umschrieben, oder sie die öffentliche Sicherheit nicht in die Hände der globalen Pharmakonzerne legen wollen, die sie herstellen.

Natürlich grassieren auch im Westen Gerüchte und Falschinformationen. Fox News, der meistgesehene Kabelnachrichtensender in den Vereinigten Staaten, hat jahrelang Desinformation über Impfstoffe verbreitet. Aber 70 Prozent der Erwachsenen in den USA sind inzwischen vollständig geimpft. Warum sind so viele Osteuropäer empfänglicher?

Nachlassendes Vertrauen in Staat und Menschen

Das geringe öffentliche Vertrauen, das Osteuropa unterscheidet, ist ein Erbe des Zusammenbruchs des Kommunismus, der tiefen Rezessionen in vielen Ländern in der Übergangszeit und des Versagens der postkommunistischen Regierungen die Folgen abzumildern. In einem viel geteilten Reuters-Artikel machen ungenannte „Experten“ die „jahrzehntelange kommunistische Herrschaft, die das öffentliche Vertrauen in die staatlichen Institutionen untergraben hat“, dafür verantwortlich. Tatsächlich aber war das öffentliche Vertrauen während des Kommunismus viel höher.

Im Zuge der Arbeit an unserem jüngsten Buch, Taking Stock of Shock: Social Consequences of the 1989 Revolutions, haben wir das mangelnde öffentliche Vertrauen der Osteuropäer anhand von Daten aus der World Values Survey, einer internationalen Erhebung zu Wertorientierung, und der Life in Transition Survey, einer Umfrage zum Leben in Übergangszeiten, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) untersucht. Mit wenigen Ausnahmen zeigt die World Values Survey, dass der Prozentsatz derjenigen, die der Aussage „Den meisten Menschen kann man vertrauen.“ zustimmen, in den ehemals kommunistischen Ländern stetig abnimmt.

Dieser Rückgang war in den Ländern ausgeprägter, die eine tiefere postkommunistische Rezession erlebten, und er kehrte sich nicht um, als das Wirtschaftswachstum schließlich zurückkehrte. Stattdessen nahm das öffentliche Vertrauen weiter ab. In Bulgarien hatten zwischen 1995 und 1998, also in einigen der schlimmsten Jahre der Rezession während des Übergangs, 23,7 Prozent der Befragten Vertrauen in ihre Mitbürger, während es 2017 bis 2020 nur noch 17,1 Prozent waren. In Rumänien sank das soziale Vertrauen im gleichen Zeitraum von 17,9 auf 12,1 Prozent.

Selbst in den relativ erfolgreichen Staaten Polen und Tschechische Republik, für die die World Values Survey vollständigere Daten liefert, sank das Vertrauen während des Übergangs nach dem Ende des Kommunismus. Im Zeitraum 1989 bis 1992 glaubten 31,3 Prozent der Polen und 30,2 Prozent der Tschechen, dass man den meisten Menschen vertrauen kann. Im Zeitraum 2017 bis 2020 war dieser Anteil deutlich geringer – nur 24,1 bzw. 21,1 Prozent. Aufschlussreich ist dabei, dass das soziale Vertrauen zwischen 1991 und 2007 in ganz Osteuropa abnahm, während es in Westeuropa zunahm.

Mehr Vertrauen im Kommunismus

Die EBWE begann ihre umfangreiche „Life in Transition“-Umfrage im Jahr 2006, und führte im Zuge dessen eintausend persönliche Interviews in jedem der 28 postkommunistischen Länder. Dabei stellte sich heraus, dass zwei Drittel der Befragten glaubten, dass man den meisten Menschen vor 1989 vertrauen konnte, während 17 Jahre später nur noch etwa ein Drittel der Meinung war, dass man den meisten Menschen vertrauen kann. Dieses Ergebnis stimmte über alle Regionen und Länder hinweg überein, wobei die Mehrheit der Befragten in allen Alters- und Einkommenskategorien der Meinung war, dass die Menschen im Kommunismus generell „vertrauenswürdiger“ waren.

Es ist nicht überraschend, dass die Enttäuschung über die Ergebnisse der Transformation auch das durchschnittliche Vertrauen in öffentliche Institutionen (einschließlich Regierung, Parlament, Gerichte, Armee und Polizei) in der gesamten postkommunistischen Region von den 1990er- bis zu den 2010er-Jahren sinken ließ. Von 1990 bis 2013 sank das Vertrauen in politische Institutionen in Mittel- und Osteuropa um die Hälfte.

Erik Berglöf, der damalige Chefvolkswirt der EBWE, gelangte mit Blick auf diese Daten zu folgendem Schluss: „Es ist wichtig zu bedenken, dass der Schaden, der während der schwierigen Zeiten verursacht wurde, nicht nur in Bezug auf das materielle Wohlergehen, sondern auch das allgemeine Vertrauensniveau und das subjektive Wohlergehen, nicht unterschätzt werden sollte.“

Die Umfragedaten lenken die Aufmerksamkeit auf eine wenig bekannte Tatsache: Die postkommunistischen Rezessionen waren die schlimmsten in der neueren Geschichte, weit schlimmer als die Weltwirtschaftskrise. Aber nicht alle Länder litten gleichermaßen. Während sich einige, insbesondere die mitteleuropäischen Länder, relativ schnell erholten und sich den EU-Normen annäherten, erlitten viele andere unvorstellbare Verluste. Das durchschnittliche postkommunistische Land erreichte erst nach 17 Jahren wieder das Niveau der Wirtschaftsleistung von vor 1989, was in Ländern, die im Kommunismus eine Kultur der gegenseitigen Unterstützung gegen den Staat pflegten, tiefes Misstrauen und ein Gefühl der Verlassenheit wachsen ließ.

Die Erfahrungen Osteuropas mit der Pandemie zeigen, dass viele Länder die tiefgreifende Erosion des öffentlichen Vertrauens, die nach 1989 begann, noch nicht überwunden haben. Schon lange vor dem Ausbruch der Krise waren diese Länder zu einem fruchtbaren Boden für Desinformationskampagnen – oft russischen Ursprungs – geworden, die das Ziel hatten, die öffentliche Meinung gegen die EU, gegen den Westen und gegen erfolgreiche Experten im eigenen Land zu wenden. Das hohe Maß an Impfskepsis und die steigende Zahl der Todesfälle in der Region sind ein sichtbares Ergebnis, das nicht die jahrzehntelange kommunistische Herrschaft widerspiegelt, sondern die jahrzehntelangen sozialen Folgen ihres Zusammenbruchs.

Kristen Ghodsee, Professorin für Russische und Osteuropäische Studien und Mitglied der Graduiertengruppe für Anthropologie an der University of Pennsylvania, ist die Autorin von „Red Valkyries: The Revolutionary Women of Eastern Europe“.

Mitchell A. Orenstein, Professor für Russland- und Osteuropastudien und Politikwissenschaften an der University of Pennsylvania, ist Senior Fellow am Foreign Policy Research Institute und Autor von „The Lands in Between: Russia vs. the West and the New Politics of Hybrid War“.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow / Copyright: Project Syndicate 2021

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