Ich glaube an Russland und seine Menschen
Über den beiderseits schwierigen Abschied vom Imperium und wie Frieden möglich wird
Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt und hat uns aus dem Schlaf gerüttelt. Wer hätte es vor einigen Tagen für möglich gehalten, dass Russlands Präsident den Befehl erteilen würde, die Ukraine nicht nur anzugreifen, sondern auch zu okkupieren, zu dem einzigen Zweck, um eine Regierung aus dem Amt zu bringen, die ihm missfällt?
Niemals hätte geschehen dürfen, dass die Ukraine, dieses versehrte und vernarbte Land mit brachialer Gewalt heimgesucht wird, dass alles zunichtegemacht wird, was in den vergangenen Jahren erreicht worden ist. Und dennoch ist es geschehen.
Der Krieg ist wie das Wunder in der Theologie. Alle glauben an das immerwährende Recht und daran, von ihm für alle Zeit geschützt zu sein, und dann kommt plötzlich Unvorhergesehenes, Unerhörtes, Verstörendes in die Welt, und bald schon gelangt auch dem letzten Realitätsverweigerer zu Bewusstsein, dass die Welt ein ganz anderer Ort ist, als er sich ihn vorgestellt hat.
Man will sich nicht eingestehen, dass Putin es getan hat, aus dem einzigen Grund, weil es ihm und seiner Gefolgschaft gefallen hat, diesen Krieg zu entfesseln, der alles infrage stellt, was man in Europa für gewiss halten durfte: dass man zwar mit Gewalt drohen, sie aber am Ende aus vernünftigen Gründen nicht sprechen lassen dürfe.
Putin führt einen Krieg, der vom Geist der Rache, der Vergeltung und männlicher Stärke erfüllt ist, der aller Welt demonstriert, dass die totgeglaubten Mächte wiederauferstanden sind und sich holen, was sie beanspruchen. Sie tun es, weil sie können, was sie wollen, und weil sie wissen, dass man zwar in der Ukraine, aber nicht im Westen Europas zu kämpfen versteht.
Wir haben vergessen, dass Drohung, Erpressung und kriegerische Gewalt immer schon Handlungsoptionen waren. Und wir haben verdrängt, dass es Menschen gibt, die sie ergreifen, wenn sie sich davon einen Gewinn versprechen.
Manche erklären Putin nun für verrückt. Wer nicht handele wie sie selbst, so muss man solche Erklärungen wohl verstehen, kann offenbar gar nicht verstanden werden. Im Grunde ist der Hinweis auf den Geisteszustand des Angreifers nur das Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit.
Wahr ist vielmehr, dass Putin Chancen und Risiken sehr wohl abgewogen und die Entscheidungsträger in den Ländern des Westens richtig eingeschätzt hat. Vor ihnen fürchtet er sich nicht, weil bislang er derjenige ist, der darüber befand, worauf die anderen reagieren müssen. Solange er die Initiative in seinen Händen behält, entscheidet er über den nächsten Schachzug.
Ein einziger Mensch kann den Weltenlauf verändern, indem er eine Entscheidung trifft, die nicht nur mit dem Status quo radikal bricht, sondern Tatsachen schafft, die niemand ignorieren kann. Auch diese Lehre kann man aus dem Geschehen ziehen, das sich gerade vor unseren Augen vollzieht und auf das wir offenbar keine zureichende Antwort finden.
Aber auch Putin könnte die Souveränität über den Ausnahmezustand verlieren. Denn jeder Angreifer, der die Brücken hinter sich abgebrochen hat, befindet sich auf offenem Feld, von dem er nicht weiß, ob an seinen Rändern womöglich der Abgrund auf ihn wartet.
Der Krieg ist eine riskante Versuchung, und wer ihn beginnt, muss wissen, dass jeder Schuss das Tor zu einer neuen, unbekannten Welt öffnet. Der Krieg verändert alles, auch den Angreifer, der, wenn er keine Rückzugsoption hat, alles auf eine Karte setzen muss, um nicht unterzugehen.
Wird aus dem Triumph ein Pyrrhussieg?
Was geschieht, wenn der Angriff misslingt, sich festfährt, wenn Soldaten desertieren, sich weigern, auf Gegner zu schießen, die sie nicht für ihre Feinde halten, wenn Zivilisten getötet werden, und die Bilder der Toten und Verstümmelten sich auch in Russland verbreiten?
Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich ein Triumph der russischen Waffen am Ende als Pyrrhussieg erweisen könnte. Die russische Armee mag die Ukraine niederwerfen. Aber können Putins Helfer sie auch besetzen und der Bevölkerung ihren Willen aufzwingen? Daran bestehen zumindest große Zweifel.
Sollte sich der Widerstand versteifen und die russische Armee in einen Zermürbungskrieg verwickelt werden, würde bald auch in Russland die Machtfrage aufgeworfen. Putin und seine Ratgeber nehmen dieses Risiko in Kauf, denn sie wissen natürlich, dass sie auch mit ihrer eigenen Macht spielen, und sie mögen ahnen, dass es um sie geschehen sein könnte, wenn der Krieg, den sie entfesselt haben, verloren geht. Deshalb können sie nicht zurück, sie müssen gewinnen, oder sie werden untergehen.
Man sollte die Entschlossenheit solcher Tatmenschen nicht unterschätzen, die um nichts in der Welt nachgeben werden, wenn sie dadurch ihr Gesicht und ihre Macht verlieren. Die Gefolgsleute müssen sich von Putin befreien, müssen ihn aus dem Amt entfernen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht mehr, um dem Schrecken ein Ende zu machen.
Der kühle Putin erstmals außer sich
Es ist das Dilemma autoritärer Herrscher, dass sie in ihrer Umgebung nur zu hören bekommen, was sie hören wollen. Sie immunisieren sich gegen die Wirklichkeit, werden blind für das Geschehen, das sich vor aller Augen vollzieht.
Putin versteht nicht, dass die Ukraine des Jahres 2022 nicht mehr die Ukraine des Jahres 2014 ist, dass sich die Bürger selbst im Osten des Lands mit der staatlichen Ordnung arrangieren, weil sie in ihr einen Platz finden konnten. Der alte Gegensatz von Nation und Imperium löst sich langsam auf; wer Russe sein will, kann es auch als ukrainischer Staatsbürger sein, weil ihm nicht abverlangt wird, den Nationalismus der Eindeutigkeit anzubeten.
In vielerlei Hinsicht hat die Entfaltung bürgerlicher Verhältnisse die Ukraine stabilisiert. Putin mag geahnt haben, dass die Ukraine für immer verloren gehen würde, aber er glaubte wohl auch, es sei das Ziel der westlichen Staatengemeinschaft, sich der Ukraine für ihre strategischen Zwecke zu bedienen, Russland einzukreisen, es klein und nichtig zu machen.
Zum ersten Mal geriet Putin, der kühl kalkulierende Techniker der Macht, außer sich. Aus seiner Fernsehansprache, mit der er den Angriff zu legitimieren versuchte, sprachen Leidenschaft, Hass und verletzte Ehre, die Wut über den Verlust des Imperiums und der Ukraine, jenes Orts, mit dem sich die meisten Russen eng verbunden fühlen und der im Gründungsmythos des russischen Reiches fest verankert ist.
Kiew ist nicht irgendein Ort. Im nationalen Mythos Russlands ist er die Geburtsstätte des Imperiums. Odessa, die Krim, der Dnjepr sind auch für Russen Sehnsuchtsorte, die mit Erinnerungen an eine untergegangene Welt, aber auch mit gemeinsam erbrachten Opfern in den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts verbunden sind.
So wie die Ukraine für Russen kein fremdes Land ist, so ist auch Russland für die meisten Ukrainer kein feindliches Territorium. Millionen Russen und Ukrainer leben jenseits der Grenzen, in der Ukraine und in Russland. Russlands Schmerz über den Verlust des Imperiums ist groß, weil seine Bürger keinen Weg gefunden haben, diesen Schmerz auf produktive Weise zu bewältigen, weil sie nichts aufzubieten haben, was jenseits der russischen Grenzen für plausibel gehalten werden könnte.
Russen sehen ihre Nachbarn nicht als Feinde
Nationalstaaten, die sich aus Imperien herauslösen, also durch Sezession zur Welt kommen, müssen sich hingegen behaupten. Ihre Eliten legen sich Geschichten zurecht, in denen sich die Nation als Ort der Unschuld, das Imperium als Ort der Unterdrückung präsentiert. Für sie ist die Sowjetunion der Hort allen Übels. Deshalb auch werden ihre Denkmäler entfernt, ihre Festkalender entrümpelt, ihre Helden aus dem Gedächtnis gelöscht, und ihre Geschichte wird umgeschrieben. Der Stalinismus wird in eine russische Veranstaltung verwandelt, obgleich insgeheim doch alle wissen, dass die Sowjetunion ein bolschewistisches, aber kein russisches Projekt war.
Russland fällt es schwer, sich vom Imperium zu verabschieden. Der Zerfall der Sowjetunion war für Millionen Menschen ein tragisches Ereignis, viele wurden zu Ausländern im eigenen Land. Für sie ist es schmerzhaft zu erleben, wie die Mythen, die einst die Völker der Sowjetunion miteinander verbanden, in den Schmutz geworfen, entwertet und entwürdigt werden.
Waren denn nicht alle Völker der Sowjetunion Opfer des stalinistischen Terrors gewesen, hatten denn nicht alle gemeinsam Krieg gegen Deutschland geführt? Für die meisten Russen war die Sowjetunion ein Zuhause, in dem sie gern gelebt hatten. Denn ein anderes hatten sie nicht.
Erst wenn die Entflechtung des Imperiums auch in den Köpfen der Menschen vollzogen ist, kann es einen Frieden geben, der den nächsten Tag überdauert. Die Zeit der Entscheidungen ist kurz, die Zeit der Kultur ist lang. Auf diesem Grund säen die Strategen ihren Hass aus, entfesseln Putin und seine Gefolgsleute Konflikte, von denen sie sich einen Prestigegewinn, Unterstützung und Loyalität versprechen. Wer darin, wie hierzulande, nur den Gegensatz von Demokratie und Diktatur sieht, hat vom Leben in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion nichts verstanden.
Dennoch steht jetzt schon im Zweifel, ob die Instrumentalisierung der Emotionen ihren Zweck erfüllt, ob ein Krieg, der auch die Zivilbevölkerung in der Ukraine härter träfe, als es jetzt schon der Fall ist, noch jenen mobilisierenden Effekt hätte, den Putin sich von ihm verspricht. Seine Strategie scheint nicht mehr aufzugehen.
Man mag ukrainische Nationalisten und ihre Rhetorik ablehnen, aber die meisten Russen sehen ihre Nachbarn in Odessa, Charkiw und Kiew, mit denen sie eng verbunden sind, nicht als ihre Feinde. In den Großstädten Russlands haben sich viele junge Menschen vom sowjetischen Erbe ohnehin längst verabschiedet. Befände sich Russland im Krieg mit der Nato, es fiele Putin leichter, sich vor der eigenen Bevölkerung für einen aufopferungsvollen Kampf zu rechtfertigen.
Mit anderen Worten: Es ist die Sehnsucht nach dem Imperium, die der Gewalt das Wort gibt und sie zugleich begrenzt. Darin aber liegen auch Möglichkeiten verborgen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Es gibt nicht mehr als die Hoffnung, dass es gelingen wird, sie zu nutzen. Denn wer nach den Sternen greift, wird, wie stets, das Mögliche verfehlen. Es scheint jetzt noch unvorstellbar, aber es wird ein Leben nach dem Krieg geben, und es verlangt nach außergewöhnlichen Menschen, die es nicht sogleich wieder verspielen und die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Ich glaube an Russland und seine Menschen und daran, dass es zu einem Frieden kommen wird, in dem sich alle Völker der ehemaligen Sowjetunion einrichten können, ohne mit ihrer Vergangenheit brechen zu müssen.
Jörg Baberowski lehrt Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 1.3.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.