Haass: Der heilige Doktor
Gefängnisarzt im zaristischen Russland: Eine Biografie über Friedrich Joseph Haass
Der „gute Doktor Haass“ war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Institution in Moskau. Jede Woche begab er sich auf die Sperlingsberge, von wo aus die Verurteilten sich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Sibirien machten. Sie trugen entweder eiserne Fußschellen oder waren mit den Händen manchmal zu zehnt an einen kurzen Stab gefesselt. So wurde bereits das einfache Gehen zur Tortur.
Der deutsche Arzt untersuchte die Gefangenen und bestand darauf, nur die Gesunden auf die nächste Etappe zu schicken. Er erfand sogar neue Fußfesseln, die in Leder eingeschlagen waren und weniger schwer waren.
Friedrich Joseph Haass (1780 – 1853) hatte in Köln, Jena, Göttingen und Wien Philosophie und Medizin studiert und war als Leibarzt der Adelsfamilie Repnin nach Russland gelangt. Die Kunde von Haass’ Wohltätigkeit machte schnell die Runde und erreichte auch die Literatur. Fjodor Dostojewski plante in einer frühen Arbeitsnotiz zu seinem Roman „Verbrechen und Strafe“ ein Gespräch zwischen seinem Helden, dem Mörder Raskolnikow, und dem barmherzigen Gefängnisarzt.
Raskolnikow hätte sich nach diesem Entwurf zu einem zweiten Haass entwickelt. Allerdings passte ein moralisches Vorbild aus Deutschland nicht in Dostojewskis chauvinistisches Heilsprogramm. Immerhin gewährte Dostojewski dem guten Doktor einen kurzen Gastauftritt in seinem nächsten Roman „Der Idiot“.
Verklärung und Seligsprechung
Der an der Moskauer geisteswissenschaftlichen Universität tätige Germanist Dirk Kemper legt nun eine kulturgeschichtliche Darstellung von Haass’ Leben vor, die er im Untertitel provokativ „Biografie einer Legende“ nennt. In der Tat wird die chronologische Rekonstruktion einzelner Lebensereignisse der mythenumrankten Figur Doktor Haass nicht gerecht. Die Verklärung des gesellschaftlich engagierten Arztes gipfelt in der Seligsprechung durch die russisch-orthodoxe Kirche im Jahr 2018.
Kemper betreibt allerdings keinen Bildersturm. Im Gegenteil: Seine Lebensbeschreibung ist von tiefem Respekt für Haass’ außergewöhnliche Menschenliebe getragen. Kemper greift aber weit über Haass’ persönliche Biografie hinaus und erklärt, was ein Medizinstudium um 1800 überhaupt bedeutete. Kemper beschreibt die Richtungskämpfe zwischen der traditionellen Medizin, die Krankheit als Ungleichgewicht der Körpersäfte verstand, und der romantischen Medizin, die den menschlichen Organismus als Einheit von Körper und Seele auffasste.
Geprägt wurde diese Richtung vom schottischen Arzt John Brown, der physiologische Vorgänge als Zusammenspiel von Reiz und Reaktion begriff und die Kategorie der „Erregbarkeit“ ins Zentrum seiner Medizin stellte. Der Philosoph Friedrich Schelling bündelte diese Entwicklungen in seinen naturwissenschaftlichen Vorlesungen und legte den Grundstein für eine moderne Medizin, die sich nicht nur mit der Heilung, sondern auch der Prävention von Krankheiten beschäftigte. Haass gehörte mit dem Schweizer Arzt und Staatsdenker Ignaz Troxler zu Schellings ersten Hörern an der Universität in Jena.
Ruf eines Querulanten
Kemper weist schließlich auf die weitreichenden theologischen Implikationen des medizinischen Paradigmenwechsels um 1800 hin. Mit den neuen, empirisch überprüfbaren Behandlungsmethoden verlor auch die Vorstellung eines Schöpfergotts, der den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hatte, an Bedeutung. Man musste nicht so weit gehen wie die frühen Materialisten, die den Menschen als Maschine bezeichnet hatten. Aber die Idee eines sich selbst regulierenden Organismus kam weitgehend ohne eine theologische Dimension aus.
Friedrich Joseph Haass richtete sein Handeln konsequent nach einem aufgeklärten Wissenschaftsverständnis aus: So wandte er sich während der Choleraepidemie von 1830/1831 in Moskau energisch gegen den Aderlass, den er als „selbstmörderisch“ bezeichnete.
Gleichzeitig war Haass ein gläubiger Katholik, der sich aus christlicher Glaubenspflicht für die Gefangenen und Verbannten einsetzte. Dabei überschritt er bisweilen seine Kompetenzen und erwarb sich bei seinen russischen Vorgesetzten, die ihm durchaus gewogen waren, den Ruf eines Querulanten. Seine Lebensdevise „Beeilt euch, Gutes zu tun“ ziert seinen Moskauer Grabstein. Am Zaun um das Grabmal hängt ein Exemplar der erleichterten Fußfesseln, die Haass erfunden hatte.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 18.2.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung
Das außergewöhnliche Leben des Friedrich Joseph Haass