Das Plumpsklo: Not bei der Notdurft
Thema in Kunst und Literatur: Die prekären sanitären Verhältnisse in Russland
Plumpsklohäuschen sind ein unverwechselbarer Bestandteil der russischen Landschaft, schon wegen ihrer schieren Zahl in den Dörfern und Datschen-Siedlungen. Dabei sollen, laut Staatlichem Statistikamt Rosstat, 2018 mehr als zwanzig Prozent der russischen Haushalte keinen Zugang zur zentralen Kanalisation gehabt und nur über Sickergruben verfügt haben.
Auf dem Land sieht die Situation naturgemäß dramatischer aus: 65,5 Prozent der Einwohner benutzten Sickergruben, und mehr als 18 Prozent hatten gar keine Aborte. Nach der internationalen Organisation Water Aid findet sich Russland auf der Liste der zehn Staaten mit dem höchsten Anteil von städtischen Bevölkerungen, die „free defecation“ praktizieren. Allerdings weit hinten, ganz vorne rangiert Indien.
Doch Statistiken und Ländervergleiche verbergen oft mehr, als sie offenlegen. Ein mieser Zustand oder das Fehlen von Sanitäranlagen lassen sich nicht allein mit Armut, Rückständigkeit und fehlenden staatlichen Investitionen erklären. Genauso wichtig können tradierte Verhaltensnormen und kulturelle Stereotype sein.
Quelle von erstickendem Gestank
Bereits Tschechow hatte eine „komplette Verachtung der Bedürfnisanstalt durch den überwiegenden Anteil russischer Menschen“ als Besonderheit der russischen Mentalität hervorgehoben. „In den Dörfern gibt es gar keine Aborte“, schrieb er im Reisebericht „Die Insel Sachalin“ (1893). „In den Klöstern, auf den Messen, in den Gastherbergen . . . sind sie im höchsten Maße ekelhaft.“ In den von ihm besuchten Strafkolonien und Gefängnissen dienten Aborte „als Quelle von erstickendem Gestank und von Seuchen“, womit sich sowohl deren Insassen als auch deren Verwalter leicht abfanden.
Um 1900 gehörten derart unhaltbare Zustände auch in den Großstädten zur Normalität. Selbst die rasant wachsende Weltmetropole Sankt Petersburg schaffte es nicht, die dringend benötigte Kanalisation zu bauen. 1911 prangerte der Abgeordnete der Petersburger Stadtduma und Mitglied der liberalen Partei Konstitutioneller Demokraten Lew Welichow in der Zeitschrift Gorodskoje delo die Unfähigkeit der russischen Zivilgesellschaft an, sachlich mit Prioritäten und konkreten Aufgaben städtischer Entwicklung umzugehen. Er führte deren Versagen auf eine tiefe Kluft „zwischen dem idealen Genius der Nation und den viehischen Bedingungen“ zurück, zu denen er sich „quasi freiwillig verurteilt“ haben soll, und bezeichnete dieses Paradox als „Kulturrätsel“. „Ganze Generationen überzeugter Menschen predigten Gleichheit, Brüderlichkeit und Humanität und verachteten die äußeren Seiten des Lebens.“
Welichow glaubte also einen Zusammenhang zwischen dem Idealismus der russischen Intelligenzia und dem Zustand der Kanalisation erkannt zu haben. Es sei an der Zeit, dass „die materielle Kultur laut und machtvoll ihre Rechte einfordert“.
Seine Hoffnung auf „praktische Menschen“, auf entschlossene Bürger und tüchtige Macher wurde von der Oktoberrevolution vereitelt. 1917 betraten neue Akteure die historische Bühne, die eine anschauliche und übelriechende Antwort auf die hochfliegenden Ideen der kollektivistischen Utopie zu geben wussten.
Mit Entsetzen erinnerte sich der proletarische Schriftsteller Maxim Gorki in seinem Essay „W. I. Lenin“ (1924), wie die Bauern, die 1919 am „Kongress der Bauernarmut“ teilgenommen hatten und im Winterpalast untergebracht worden waren, „nicht nur alle Badezimmer des Palasts, sondern auch eine riesige Zahl wertvollster Porzellanvasen aus Sèvres, Sachsen und dem Orient von unschätzbarem Wert . . . als Nachttöpfe für ihre Notdurft benutzt hatten“.
Bedürfnisanstalt: Topos sowjetischer Satire
Die bolschewistische Diktatur hatte Adel, Bürgertum und Geistliche enteignet und entrechtet. Besitzlose erhielten indes Privilegien. Der ehemals private Wohnraum wurde mit Arbeitern, Soldaten und Dienstpersonal, die früher in Baracken, Kasernen oder in Kellern ein Unterkommen gefunden hatten, „verdichtet“.
Auf diese Weise waren jene berühmt-berüchtigten Gemeinschaftswohnungen entstanden, die eine erzwungene soziale Durchmischung schufen und für Jahrzehnte zu einer Brutstätte der neuen sozialistischen Sittlichkeit avancierten. 1940 lebten zwei Drittel der sowjetischen Bevölkerung in den Kommunalka.
Die Unmöglichkeit, ein elementares physiologisches Bedürfnis auf halbwegs zivilisierte Weise zu befriedigen, wurde zu einer prägenden Erfahrung aller Bevölkerungsschichten. Kein Wunder, dass in den zwanziger und dreißiger Jahren ausgerechnet die Bedürfnisanstalt zu einem prominenten Topos der sowjetischen Satire avancierte.
„Wenn ich auf der Toilette, entschuldigen Sie den Ausdruck, am Becken vorbeipinkele und Sina und Darja Petrowna es ebenso machen, beginnt in der Toilette die Zerrüttung. Folglich fängt die Zerrüttung nicht in den Toiletten an, sondern in den Köpfen“, räsoniert Professor Preobraschenski, der Protagonist in Bulgakows Satire „Hundeherz“ (1925), über die Folgen der bolschewistischen Diktatur. Als innovativer Verjüngungschirurg transplantiert er Hypophyse und Hoden eines frisch gestorbenen Kleinkriminellen einem Straßenhund und kreiert dadurch ungewollt einen „neuen Menschen“, der sich als Lumpenproletarier entpuppt.
Kaum des Sprechens mächtig, macht er sich in der herrschaftlichen Wohnung Preobraschenskis breit, setzt sie unter Wasser, bringt seine Saufkumpane von der Straße mit und denunziert den Hausherrn als Regimegegner. Auf den letzten Drücker gelingt es Preobraschenski und seinem Assistenten Bormental, das misslungene Geschöpf wieder in einen Hund zurückzuverwandeln.
Die Sowjetdiktatur ließ sich jedoch nicht mehr wegoperieren. „Es ist unmöglich, gleichzeitig an den Straßenbahnschienen zu hantieren und sich um die Schicksale irgendwelcher spanischer Lumpen zu sorgen. Das gelingt niemandem . . . und umso weniger den Menschen, die in ihrer Entwicklung 200 Jahre hinter den Europäern zurückgeblieben sind und immer noch ihre Hose nicht ganz sicher zuzuknöpfen verstehen.“
„Hundeherz“ durfte in der Sowjetunion erst 1987 erscheinen.
Kirchen zu Latrinen
Nicht nur der „bürgerliche“ Schriftsteller Michail Bulgakow, sondern eine ganze Plejade herausragender „proletarischer“ Autoren (wie Sergei Jessenin im Poem „Das Land des Gesindels“,) ließ sich inspirieren vom sozialistischen Alltag zwischen dem Fehlen und dem unbeschreiblichen Zustand öffentlicher Aborte, von dem Exzess der Kommunalka, der Unkultur und der „Diktatur des Proletariats“.
So verfasste der populäre und skandalumwitterte „Bauerndichter“ Sergei Jessenin, der mit der amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan liiert war und diese 1922 und 1923 auf ihren Tourneen in Europa und den USA begleitete, ein Poem mit dem Titel „Das Land des Gesindels“, dessen Handlung im Ural während des Bürgerkriegs verortet war.
Der Kampf um die lichte Zukunft wird von Jessenin als Plünderung Russlands durch anarchistische und bolschewistische Banden dargestellt. Seine Protagonisten sind Glücksritter, die Raub und Mord mit wirren Weltbefreiungsphantasien oder mit dem Anspruch auf Russlands kommende Zivilisierung zu rechtfertigen suchen.
Besonders skurril erscheint die Figur eines brutalen jüdischen Kommissars Leibmann, dem Jessenin den sprechenden Decknamen Tschekistow verpasst. Tschekistow war nach Russland, das er wegen seiner Kulturlosigkeit verabscheute, aus Weimar – für Jessenin vermutlich ein Inbegriff der europäischen Hochkultur – gekommen, um es mit Gewalt zu zivilisieren. „Ich schimpfe und werde hartnäckig / Euch verteufele ich Jahrtausende lang, / Weil, weil ich aufs Klo möchte, aber in Russland gibt es keins. / Ihr, fürchterliches und lächerliches Volk! / Ihr habt Gotteshäuser gebaut. / Ginge es nach mir, würde ich sie in Latrinen umbauen.“
Allerdings war der obszöne Traum des unheimlichen Kommissars, Kirchen in Latrinen zu verwandeln, nicht nur einer satirisch überspitzten nihilistischen Fantasie geschuldet. Die Abschaffung der Religion und die Zerstörung der Kirchen gehörten ins leninistische Programm zum Aufbau des Sozialismus. In den zwanziger und dreißiger Jahren wurden öffentliche Aborte nicht selten anstelle von abgerissenen Kirchen und Kapellen errichtet, einer davon am Roten Platz gegenüber dem Historischen Museum.
Plumpsklos im modernen Wolkenkratzer
Was Bulgakow als „Zerrüttung in den Köpfen“ bezeichnete, verstand das Satiriker-Duo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow eher als tradierte Mentalität einer rückständigen Masse, die der Modernisierung und Zivilisierung der Gesellschaft im Wege stand. In „Der Gast aus Südamerika“ aus dem Erzählungszyklus „Ungewöhnliche Geschichten aus dem Leben der Stadt Kolokolamsk“ (1927) kehrt ein steinreich gewordener ehemaliger Einwohner dieses Provinzkaffs namens Gorazio Fedorenkos in seine Heimatstadt zurück und lässt für seine Landsleute einen 32-stöckigen Wolkenkratzer errichten, um diese an höherer Zivilisation teilhaben zu lassen. Noch nicht fertig gebaut, wird das Gebäude jedoch von ungeduldigen Einwohnern in Beschlag genommen.
Das ganze Städtchen mit seinen Ämtern, Biergärten, Ausnüchterungszellen, seinem Vieh und Geflügel zieht in das Wunderhaus um und verwandelt die konstruktivistische Utopie in ein vertikales Dorf. Auf den marmornen Treppenpodesten werden Plumpsklos aus Holzbrettern errichtet und moderne Ausrüstung wird indes nach und nach herausgerissen und in der nächsten Kreisstadt auf dem Flohmarkt verkauft. Nachdem das Gebäude bis auf das Metallgerippe auseinandergenommen und unbewohnbar gemacht worden ist, kehren die Kolokolamsker in ihre alten Hütten und zu ihrer tradierten Lebensweise zurück. Beharrungskräfte der alten (Un-)Kultur siegen über den sozialistischen Wunschtraum.
Sowjetmenschen, die aus dem Gemeinschaftsklo Glühbirnen klauen und keinen Bock darauf haben, ihre Exkremente hinunterzuspülen, begegnet man auch in den Erzählungen Michail Soschtschenkos, der nicht müde wird, den „neuen Menschen“ vorzuführen.
Bourgeoise Erziehung per Wasserspülung
In der kurzen Erzählung „Die Falle“, die 1933 in der Satire-Zeitschrift Krokodil erschien, verspürt ein sowjetischer Dichter, der Italien und Deutschland bereist, um die „bourgeoise Kultur kennenzulernen und seine Garderobe aufzufrischen“, ein dringendes Bedürfnis und sucht ein öffentliches Wasserklosett auf. Als er hinauswill, öffnet sich die Tür nicht mehr.
Verzweifelt ruft der Dichter um Hilfe, doch des Deutschen nicht mächtig, kann er sich mit Passanten draußen nicht verständigen, bis ein des Wegs kommender russischer Emigrant seine Schreie hört und ihm erklärt: „Diese Schurken [gemeint sind die Deutschen] haben eine mechanische Tür eingebaut. Sie haben vermutlich vergessen, am Mechanismus zu ziehen. Lassen Sie Wasser hinunterspülen, und die Tür öffnet sich von selbst. Das haben die absichtlich für vergessliche Menschen gemacht.“
Aus seinem Toiletten-Debakel zieht der proletarische Dichter eine Lehre: „Also entsteht die berühmt-berüchtigte deutsche Sauberkeit nicht von allein. Deutsche erzwingen sie mit Gewalt und denken sich verschiedene Tricks aus, um die Kultur zu unterstützen.“
Doch damit finden die Abenteuer des „neuen Menschen“ in der sozialistischen Toilette noch nicht ihr Ende. Sie kann sich durchaus als spiritueller Ort erweisen, unter der Bedingung freilich, dass ihr Nutzer der sowjetischen Nomenklatura angehört und eine eigene Wohnung besitzt. „Morgens singt er im Klosett“ lautet der erste Satz von Juri Oleschas Roman „Neid“ (1927). Gemeint ist Andrei Babitschew, der Leiter eines sowjetischen Lebensmitteltrusts. Vor lauter dem morgendlichen Gang entspringender Lebensfreude und voller Tatendrang erfindet er neue Wurstsorten und konzipiert eine Gemeinschaftskantine, die Frauen von den Miasmen dreckiger Küchen erlösen soll.
Reden über viehische Bedingungen
Nach dem Zerfall der Sowjetunion besserte sich allmählich die Qualität der öffentlichen Einrichtungen, zumindest in den Großstädten, vor allem dank der Privatisierung und der Anwerbung von Arbeitsmigranten. Während der Perestroika, als der Aufarbeitung sowjetischer Verhältnisse nichts mehr im Wege stand, durfte über „viehische Bedingungen“ endlich öffentlich diskutiert werden. Sowohl Geschichtsschreibung als auch Konzeptkunst entdeckten den Umgang mit der Toilette als eine prägende Erfahrung des Homo sovieticus.
In der 1992 auf der Kasseler Documenta ausgestellten Installation von Ilja Kabakow „Das Leben in der Toilette“ dient die verdreckte Latrine zugleich als Sitz am Esstisch eines winzigen Kommunalka-Wohnzimmers. Das Fehlen von Privatsphäre und die räumlich verdichtete Einheit von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung erscheinen dabei als ein ins Groteske gesteigertes Abbild der kollektivistischen Lebensweise.
Doch die vielleicht radikalste künstlerische Aussage über die Bedeutung der russischen Toilettenkultur gelang einer unspektakulären Installation in der von Marat Gelman kuratierten Ausstellung „Russian povera“, die 2009 im Rahmen der 3. Moskauer Biennale gezeigt wurde. Sie stellte ein aus einfachen Holzbrettern gezimmertes Freiluftklohäuschen dar, das sich inmitten eines leeren Raums erhob. Trat der Besucher dem Objekt näher, vernahm er die immer lauter werdende Bassstimme Fedor Schaljapins, darin Jules Massenets Elegie „O süßer Frühling von einst“ singend.
Die dadurch erzeugte kognitive Dissonanz bot gleichsam den Schlüssel für die Lösung des russischen Kulturrätsels, das vor einem Jahrhundert den liberalen Petersburger Politiker Welichow umgetrieben hatte. In der großartigen Stimme eines im ewigen Plumpsklo eingeschlossenen Genies kam die Wechselwirkung von „viehischen Bedingungen“ und russischer Hochkultur zum Vorschein, die ohne einander ihre Eigenart zu verlieren drohten.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Ihr Betrag ist ursprünglich erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung.