Bellingcat und seine Quellen
Im Prozess um den Tiergartenmord sagt ein Journalist des Recherchenetzwerks aus
Es ist ein besonderer Zeuge, der am Dienstag im "Tiergartenmordprozess" vor dem Berliner Kammergericht aussagt. Der Journalist, der als Letzter den kleinen Verhandlungssaal mit seinen Begleitern betritt, ist als "Zeuge G." geladen. Der Vorsitzende Richter entschuldigt sich zu Beginn, dass er ihn so unpersönlich anspreche. Zumindest "Herr G." wolle er sagen, dass sei immerhin "drei Millimeter höflicher".
G. ist ein schwarzhaariger schlanker Mann um die 50 mit dünner Silberbrille. Er trägt einen dunklen Anzug und eine weinrote Krawatte, strahlt Intelligenz und Seriosität aus.
Seinen vollen Namen, so sagt der Richter, müsse er wegen begründeter Sicherheitsbedenken nicht nennen, ebenso wie seine Anschrift. Denn G. ist Hauptbelastungszeuge in dem Mordverfahren, in dem ein Russe angeklagt ist, Russlands Präsident Wladimir Putin aber gleichsam mit auf der Anklagebank sitzt.
Der Angeklagte verfolgt die Verhandlung regungslos. Der kahlhäuptige Mann soll wenige hundert Meter vom Moabiter Gerichtsgebäude entfernt am 23. August 2019 den Georgier Selimchan Changoschwili mit zwei Schüssen in den Oberkörper niedergestreckt und ihm dann in den Kopf geschossen haben.
Die Bundesanwaltschaft geht in ihrer Anklage davon aus, dass er im Auftrag der russischen Führung handelte. Changoschwili, ein ethnischer Tschetschene, sollte danach sterben, weil er im Tschetschenienkrieg separatistische Kämpfer gegen die russischen Streitkräfte führte.
Laut der Anklage soll der mutmaßliche Mörder nicht, wie er selbst behauptet, Wadim Sokolow heißen, sondern Wadim Krassikow. Er soll bereits früher einen Mord in Russland ausgeführt haben, sei zunächst zur Fahndung ausgeschrieben worden, die überraschend gelöscht worden sei. Dann sei er unter einer falschen Identität zur Mordtat nach Deutschland geschickt worden.
Bellingcat sorgt für Aufruhr im Kreml
Ein Großteil der Indizien, die von deutschen Sicherheitsbehörden zusammengetragen wurden, beruht auf den Recherchen von G. und der Organisation, für die er arbeitet: Bellingcat. Die 67 Seiten umfassende Anklageschrift führt in mehr als 70 von rund 240 Fußnoten G. als Quelle an. Dieser sei insgesamt neunmal vernommen worden, sagt der Richter. Angeblich waren es über Tage dauernde Gespräche, erst im Berliner Landeskriminalamt, dann in der deutschen Botschaft in Wien.
G. selbst berichtet dann doch aus seinem Leben. Groß geworden sei er in Bulgarien, habe Journalismus studiert, später sechs Jahre lang Medienunternehmen in Russland geleitet. Seit 2016 arbeite er für Bellingcat. Es ist ein Investigativ-Netzwerk, gegründet von dem 42 Jahre alten britischen Journalisten und Blogger Eliot Higgins. Rund 30 Leute arbeiteten dort, sagt G., die Hälfte davon sei festangestellt. Seine eigene Stellung gibt er als Chefrechercheur für das Netzwerk an, das als niederländische Stiftung eingetragen ist.
Die Recherchen, die Bellingcat anstellt, sorgen seit Jahren für Aufruhr – vor allem im Kreml. So konnte das Netzwerk nachweisen, dass die Passagiermaschine MH17 mit fast 300 Menschen an Bord von den von Moskau unterstützten Separatisten über der Ukraine abgeschossen wurde. Die Russen haben daraufhin G. sein Visum entzogen.
Auch die Hintergründe der Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten Sergei Skripal und seiner Tochter in Großbritannien mit dem Nervengift Nowitschok deckte Bellingcat auf. Die Täter kamen aus dem militärischen Auslandsdienst Russlands, dem GRU.
Bellingcat mischt auch im Fall Nawalny mit
Zuletzt war das Netzwerk daran beteiligt, die Hintergründe der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny durch Geheimdienstleute offenzulegen. Recherchen zur "grenzüberschreitenden Kriminalität" seien das bevorzugte Thema von Bellingcat, sagt G.
Als er vom Richter gefragt wird, warum Russland so oft im Fokus der Untersuchungen stehe, sagt er, die meisten grenzüberschreitenden Verbrechen in Europa fänden nun einmal unter russischer Beteiligung statt. "Das ist eine Tatsache, für die wir nicht verantwortlich sind."
Auch danach, woher Bellingcat sein Geld bekommt, wird G. gefragt. Ein Drittel seien Gebühren für Seminare, die nicht nur von Journalisten, sondern auch von Strafverfolgern besucht würden, zwei Drittel seien Spenden. Der größte Spender sei die niederländische Lottogesellschaft. Die jährlichen Einnahmen schätzt G. auf 500 000 Euro.
Wie arbeitet Bellingcat?
Wie Bellingcat arbeitet, das erklärt G. am Beispiel seiner Recherche zum mutmaßlichen Tiergartenmörder. Zunächst habe er nur dessen angeblichen Namen gekannt sowie das Geburtsdatum. Damit habe er allein in öffentlich zugänglichen Quellen recherchiert, darunter 500 Datenbanken. Bei der Abfrage der verfügbaren Melderegister von Moskau, St. Petersburg und den russischen Regionen habe sich herausgestellt, dass es eine solche Person gar nicht gebe.
Dann habe er in Datenbanken gesucht, die Bellingcat vor einigen Jahren gekauft habe. Auch dort sei die Person nicht zu finden gewesen.
Er sei zu dem Schluss gekommen, dass ein solcher Wadim Sokolow nicht existiere. Da es aber einen echten Pass für ihn gebe, habe er annehmen müssen, dass "diese Person nicht ohne Beteiligung des russischen Staates erschaffen worden sein konnte".
Der Nutzen frei zugänglicher Quellen stößt allerdings an Grenzen. Im Fall der Recherche zu dem Angeklagten kontaktierte G. deshalb Personen, die Zugang zur russischen Pass- und Steuerdatenbank haben. Solche Quellen seien gewöhnlich Polizisten oder Beamte der Sicherheitsapparate. Es seien Personen, "die bereit sind, für die Zahlung einer kleinen Summe, Daten freizugeben", beschreibt G. die Schmiergeldmethode, mit der Bellingcat arbeitet.
Drei Personen, so sagt der Richter, habe G. dafür gewonnen. Zwei seien mit ihren Anfragen nicht weitergekommen, doch der dritte, ein Major, habe Daten liefern können, wenn auch nicht die vollständige Ausweisdatei. Es sei bei diesem Vorgehen wichtig, dass die Quellen das Thema der Recherche nicht kennen würden, um nicht voreingenommen zu sein, so G.
Aber eine Quelle habe wohl erfahren, worum es bei der Anfrage gegangen sei, und habe sehr wütend reagiert. Er versuche immer, seinen Quellen eine Risikoeinschätzung zu geben. Die könne sich allerdings im Laufe einer Recherche ändern. "Ich habe zum Beispiel einer Quelle gesagt, es gehe um eine kriminelle Vereinigung. Dann aber stellt sich heraus, es geht um einen Sicherheitsdienst."
Dann kommt der Richter auf einen heiklen Punkt in der Arbeit von Bellingcat zu sprechen. "Wissen Sie etwas zum Schicksal dieser Quellen in Russland?", fragt er. Ihm gehe das Schicksal dieser Leute sehr zu Herzen, und er beobachte genau, was mit ihnen geschehe, antwortet der Zeuge G. Die Reaktionen seien schärfer ausgefallen, als er erwarte habe. Es seien "einige Quellen" festgenommen worden, offenbar alle drei.
G. soll vier Verhandlungstage lang befragt werden. Am Ende, so kündigt der Richter an, wolle er noch ausführlich über die moralischen Aspekte der Tätigkeit von Bellingcat sprechen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: FAZ, 17.2.2021, Politik / Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.