Auch russische Kinder sind Geiseln Putins
Putins Krieg ist auch ein Angriff auf alles, was in Russland gut und frei ist
Der Krieg macht sprachlos und wütend. Trotzdem wird in diesen Tagen viel Wichtiges gesagt, auch von Autoren und Künstlern. Viele appellieren an Politiker. Egal, ob das hilft oder nicht, das ist wahrscheinlich notwendig.
Ich werde das nicht wiederholen, ich appelliere an die „einfachen“ Menschen und will etwas sagen, das momentan irrelevant zu sein scheint, vielleicht sogar schockierend, aber wichtig ist: Solidarität braucht jetzt nicht nur die Ukraine, sondern brauchen auch die Menschen in Russland, die genauso angegriffen und Geiseln eines Wahnsinns sind.
Die jungen Menschen, die jetzt massenhaft in russischen Städten gegen den Krieg protestieren und festgenommen werden, sind Opfer dieses Kriegs, friedliche, gute, ehrliche Kinder. Das ist eine Generation, die in Jahrzehnten groß geworden ist, die man vielleicht die freieste Zeit in der Geschichte Russlands nennen darf.
Sie wollen nicht zurück in die sich wiederholende Geschichte. Man hat auch um sie große Angst. Und große Hoffnung auf sie, wie schwierig es auch ist, momentan von irgendwelcher Hoffnung zu sprechen.
Diesen Kindern wird ihre Zukunft geraubt. Und der Zukunft werden diese Kinder geraubt.
‚Auf eure und unsere Freiheit!‘
Als 1968 die Panzer des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, demonstrierten acht Menschen auf dem Roten Platz in Moskau dagegen, die innerhalb von wenigen Minuten verhaftet wurden. Unter ihnen war die Dichterin Natalja Gorbanjewskaja, die ich glücklicherweise in ihren späten Jahren kennenlernen durfte, sie wurde zuerst in der Zwangspsychiatrie behandelt und konnte später nach Frankreich emigrieren.
Es gab damals einen gemeinsamen Spruch der russischen, osteuropäischen und in den nationalen Sowjetrepubliken lebenden Intellektuellen: „Auf eure und unsere Freiheit!“ Man sollte sich an diesen Spruch erinnern. Heute sind es Tausende, die in Russland gegen den Einmarsch in die Ukraine protestieren; in dem Moment, in dem ich das niederschreibe, sind rund sechstausend festgenommen worden.
Durch einen Zufall las ich am Vortag des Kriegs in Günther Anders’ Tagebuch, wie er 1941 in den USA in einem Speicherlager für Kostüme in Hollywood als „Leichenwäscher der Geschichte“ arbeitet, weil er als „enemy alien“ und „unskilled worker“ eingestuft worden war. Er putzt die ganze europäische Geschichte, von griechischen Sandalen bis zu Nazistiefeln, mit dem Gefühl, dass es womöglich bald gar kein Europa außer diesem Speicherlager geben werde.
Parallel las ich die Tagebücher von André Gide vom Anfang des Zweiten Weltkriegs, in denen er über den Untergang der ganzen Kultur spricht. Das passte erschreckend zu den Gesprächen mit meinen russischen Freunden: Sie sagen, dass alles, wofür sie gelebt haben, sinnlos geworden ist.
Bitte nicht über ‚die Russen‘ richten
Ehrlich gesagt, ärgert mich, wie einfach es ist, zum eigenen Social-media-Profil ein Fähnchen hinzuzufügen, ohne etwas zu riskieren und ohne sich weitere Gedanken darüber zu machen, aber wenn, dann sollte eigentlich auch die russische Trikolore zu diesen Solidaritätsfähnchen hinzugesellt werden, die die sowjetische Fahne abgelöst hat und Symbol der Freiheit und Weltoffenheit war. Sie wird in diesen Tagen in den Dreck getreten.
Fakt ist, dass am 24. Februar auch die Menschen in Russland angegriffen wurden, denn das ist ein vernichtender Angriff auf alles, was in diesem Land gut und frei ist. Nicht acht Menschen auf dem Roten Platz, in ganz Russland gehen Menschen auf die Straßen, protestieren, werden verhaftet, verprügelt, riskieren ihren Studien- und Arbeitsplatz, ihre Freiheit, vielleicht ihr Leben.
Vor einigen Jahren habe ich in einem kleinen Theater in London ein Theaterstück gesehen, das über den gesellschaftlichen Druck auf Homosexuelle in England sprach, der zu diesem Zeitpunkt bereits zur Geschichte gehörte. Beim Schlussapplaus hielten die wunderbaren Londoner Schauspieler Plakate hoch: „To Russia with Love!“
Russland hatte in keiner Weise mit dem Theaterstück etwas zu tun, aber es war klar, dass das ein Solidaritätsakt war, nicht nur mit den Schwulen, sondern mit allen Menschen in Russland, die unter der dortigen Kehrtwende in Richtung angeblich „traditioneller Werte“ leiden. Solche Gesten ändern viel.
Wenn wir im Westen jetzt nicht kriegspropagandamäßig über „die Russen“ sprechen, sondern an Menschen denken, die sich in Russland von einem wahnsinnigen Geiselnehmer angegriffen fühlen, wird die Welt morgen, wenn der Spuk vorbei sein wird – und ich hoffe und bete, dass er bald vorbei sein wird –, etwas besser aussehen, als wenn wir den Krieg in unseren Köpfen fortsetzen.
Dieser Beitrag ist am 1.3.2022 zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wir danken der Autorin für die Erlaubnis, ihn auch auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.