Alte Liebe, neue Liebe

Haben die Ostdeutschen ein besonderes Verhältnis zu Russland, und wenn ja: Woher kommt das?

Die Ostdeutschen haben Russland kennengelernt, von seiner schönen und seiner hässlichen Seite: Soldaten der DDR-Marine und der Roten Armee 1989 in Leningrad

Es gibt Dinge im Leben, die vergisst man nicht: Es war ein lauer Frühsommertag im Juni 1965, ein Freitag-Nachmittag. Die Klasse 8b der Polytechnischen Oberschule Großkorbetha sehnte den Unterrichtsschluss herbei. Nur eine Stunde Mathematik musste noch überstanden werden, eine Klassenarbeit war angekündigt. Doch es kam anders. Der Mathelehrer zog ein langes Papier aus der Tasche. „Die Klassenarbeit fällt aus“, sagte er. „Heute ist ein besonderer Tag für unsere Schule. Ich habe Euch etwas vorzulesen. Es betrifft den Schüler Schumann.“

Ein neunseitiges Telegramm der Pionierzeitung Trommel aus Berlin war an meiner Schule eingetroffen. Darin stand, ich sei einer der zwei auserwählten Trommelreporter aus der DDR, die in den Sommerferien gemeinsam mit dem Kinder- und Jugendschriftsteller Horst Bastian die Sowjetunion bereisen sollten. Nach Moskau sollte es gehen, in ein Pionierlager im Moskauer Gebiet und auf die Krim. Man erwarte jede Woche einen Bericht für die Trommel. Hoch lebe die Deutsch-Sowjetische Freundschaft!

So begann mein Reporterleben im Land der Sowjets. Als ich später in Leipzig studierte, folgte ein Austauschsemester an der Moskauer Lomonossow-Universität. 1977 schickte mich das DDR-Fernsehen als Korrespondent für fünf Jahre in sein Moskauer Studio, 1998 dann das ZDF.

Neugier auf ein faszinierendes Land

Ich lebte mit meiner Familie zehn Jahre in Moskau. Ich bereiste die Sowjetunion und später Russland in den Zeiten von Breschnew und Andropow, von Gorbatschow, Jelzin und Putin. Von 1965 bis heute. Dabei erlebte ich beeindruckende Landschaften und wunderbare Menschen, aber auch zerstörte Natur und brutale Unmenschen.

Ich driftete mit russischen Polarforschern auf einer Eisscholle um den Nordpol. Ich kletterte auf Vulkane in Kamtschatka, fuhr die Lena hinab von der Quelle bis zur Mündung. Ich trank mit Wyssotzki Wodka im Taganka-Theater und feierte mit Kosmonauten ihre geglückte Rückkehr aus dem All.

Aber ich musste auch von den Kriegen in Tschetschenien und Nagorny Karabach berichten. Ich sah die Toten in Grosny nach den von Putin befohlenen Bombardements. Ich erlebte den Einmarsch der Russen in Georgien und der Ostukraine. Ich kroch mit Straßenkindern durch die Keller von St. Petersburg und war in Murmansk, als das Atom-U-Boot „Kursk“ mit 114 Matrosen auf dem Meeresgrund versank.

Russlands schöne, Russlands hässliche Seite

Ich war sprachlos, als russische Freunde über Nacht von glühenden Kommunisten zu tiefgläubigen orthodoxen Christen mutierten. Viele Male hatte ich mir vorgenommen: Jetzt reicht es, nie wieder Moskau, nie wieder Russland.

Doch jedes Mal wurde die Enttäuschung recht schnell verdrängt von der Neugier auf das faszinierende Land im Osten, und ich fuhr wieder los. So ist das bis heute geblieben.

Wie mir geht es zehntausenden Menschen im Osten Deutschlands. Sie haben zu Russland ein ambivalentes Verhältnis, eine Art Hassliebe. Sie haben Russland kennengelernt, von seiner schönen und seiner hässlichen Seite.

Immerhin haben mehr als zwanzigtausend DDR-Bürger in der Sowjetunion studiert. An die zwanzigtausend junge Ostdeutsche haben an der Erdgastrasse „Drushba“ gearbeitet. Hunderte Monteure, Außenhändler, Wissenschaftler, Künstler, Diplomaten und Journalisten aus der DDR waren in der UdSSR unterwegs.

Gute Erfahrungen mit Russen

Wenn der MDR am 27. November 2020 mitteilt, dass einer jüngsten Erhebung zufolge 72 Prozent der Ostdeutschen für eine Annäherung an Russland eintreten, aber nur 54 Prozent der Westdeutschen, dass 20 Prozent der Ostdeutschen Putin vertrauen, aber nur 6 Prozent der Westdeutschen, hat das nicht nur, aber wohl auch mit der deutsch-russischen Geschichte vor 1990 zu tun. Während für viele Westdeutsche, nicht für alle, die Sowjetunion vor allem eine Projektionsfläche für ihren Antikommunismus war, kannten viele Ostdeutsche den großen Nachbarn im Osten aus eigenem Erleben.

Das wirkt bis heute nach. Obwohl die Sowjets in der DDR nicht sonderlich beliebt waren. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war obligatorisch, keine Herzenssache für die meisten. Kontakte zu Sowjetsoldaten waren rar. Die Plünderungen und Vergewaltigungen nach Kriegsende sowie das Niederwalzen der Arbeiteraufstände im Juni 1953 durch sowjetische Panzer hatten sich tief ins Gedächtnis vieler Ostdeutscher eingebrannt.

Dennoch: Die Russen waren da, man machte auch gute Erfahrungen mit ihnen. Sie halfen bei der Ernte und in den Kohletagebauen, ihre Armeechöre und Orchester traten allerorten auf. Man liebte sich nicht, die Russen und die Ostdeutschen, aber man erlebte sich.

Touristenreisen in die UdSSR, nach Moskau, Leningrad, auf die Krim und nach Georgien, waren bei den Ostdeutschen begehrt. Eine Delegierung zur Arbeit beim „großen Bruder“ auch, denn die wurde gut bezahlt. Von denjenigen Ostdeutschen, die Russland und die Russen mehr oder weniger eng erlebt haben, plädiert heute eine große Mehrheit für bessere bilaterale Beziehungen, für eine Beendigung der Sprachlosigkeit.

Wer huldigt Putins Politik?

Das bedeutet nicht, dass diese große Gruppe von Ostdeutschen alles billigt, was im heutigen Russland passiert. Die aggressive Außenpolitik des Putin-Regimes, der Abbau demokratischer Grundrechte, die Diskriminierung Andersdenkender und Anderslebender finden durchaus Kritik. Aber man will mit Moskau im Gespräch bleiben und fordert von der Bundesregierung, dass sie mit gleichem Maß misst. Denn nicht nur Russland verletze Menschen- und Völkerrecht, wird argumentiert. Wenn Sanktionen gegen Russland verhängt werden, warum dann nicht auch gegen die USA, Saudi-Arabien und die Türkei?

Wer aber in Deutschlands Osten huldigt Putin und seiner Politik? Das sind zum einen die wenigen Altstalinisten, die es noch gibt. Die meisten von ihnen übrigens außerhalb der Linkspartei. Eine aussterbende Spezies, die nicht begreifen will, dass es die Sowjetunion nicht mehr gibt und aus der kommunistischen Weltmacht längst ein imperialistischer Staat geworden ist.

Eine große Mehrheit der Ostdeutschen aber, die heute kritiklos Putin und seine Politik wertschätzt, sind diejenigen, die vor 1990 kaum etwas mit der Sowjetunion im Sinn hatten. Es sind vor allem die Anhänger von Pegida und AfD.

Es ist ihre Sehnsucht nach dem starken Mann, die sie Putin hochleben lässt. Sie verdammen Merkel und preisen den autoritären Herrscher im Kreml. Einen solchen „Führer“ wünschen sie sich für Deutschland. Deshalb wehen auf Dresdener Pegida-Demonstrationen russische Fahnen, deshalb werden dort Putin-Porträts in die Höhe gehalten. Angefeuert von Russia Today, der von Berlin aus agierenden Propagandafiliale des Kremls.

Demokratieverächter vereinigen sich

Diese Pegida-Ostdeutschen und viele AfD-Wähler in den östlichen Bundesländern sympathisieren heute mit Russland, weil sie die Werte teilen, die Russlands Präsident Wladimir Putin vertritt: Extremer Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit, Ablehnung der EU, Verdammung „westlicher Dekadenz“, Diskriminierung von Homosexuellen, Verfolgung von Regimekritikern, Antisemitismus, Führerkult.

Wie tief die Verneigung ostdeutscher Rechtsaußen vor Putin inzwischen geht, zeigen die Reisen von AfD-Abgeordneten im letzten Jahr auf die von Russland annektierte Krim und in die Ostukraine. Wie weit ihr Schulterschluss mit dem Autokraten im Kreml schon gediehen ist, macht auch der Moskau-Besuch des Görlitzer Malermeisters Tino Chrupalla an der Spitze einer AfD-Abordnung am 8. und 9. Dezember 2020 für jeden Beobachter deutlich.

Außenminister Sergej Lawrow würdigte die AfD als eine politisch „bedeutende Kraft“, die sich für den Dialog mit Russland einsetze. Lawrow verlangte einen „Neustart“ in den Beziehungen mit Deutschland. Mit wem wohl als Partner?

Umworben werden vor allem die Ostdeutschen. Denn man weiß in Moskau sehr wohl, dass viele Ostdeutsche ein besonderes Verhältnis zu Russland pflegen. Manche aus alter Verbundenheit. Doch die sind für den Kreml weniger interessant. Es ist nicht mehr die Zeit der Trommelreporter und Trassenbauer. Umgarnt werden in erster Linie die Ostdeutschen, die ihre Liebe zu Russland neu entdeckt haben. Es ist die Zeit der Pegida-Leute und AfD-Anhänger. Ein Bündnis der neuen Rechten, der Demokratie-Verächter beider Länder. Leider hat diese unselige Allianz in Ostdeutschland eine starke Basis.

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