Alle Russen sind anders
Jannis Panagiotidis: Die Mehrheit der postsowjetischen Migranten unterstützt den Krieg nicht
Pro-russische Autokorsos in Deutschland und Unterstützung des Kriegs in den Sozialen Medien: Der Eindruck entsteht, als unterstütze die Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. KARENINA hat mit dem Historiker Jannis Panagiotidis gesprochen. Er ist wissenschaftlicher Geschäftsführer/Scientific Director des Forschungszentrums an der Universität Wien „Research Center for the History of Transformations“ (RECET) und erforscht seit Jahren die Geschichte der Migration, darunter die Geschichte der post-sowjetischen Migration nach Deutschland.
KARENINA: Unter dem Begriff „postsowjetische Migranten“ sammeln sich viele Menschen, die nicht unbedingt Russen sind und die nicht unbedingt Russisch sprechen. Wer sind die Menschen, die an den pro-russischen Autokorsos in Deutschland teilnehmen?
Jannis Panagiotidis: Ich nutze bewusst den Begriff „postsowjetische Migranten“, weil er verschiedene Gruppen aus der ehemaligen Sowjetunion umfasst, ohne sich hinsichtlich ethnischer Zugehörigkeit oder des Sprachgebrauchs festzulegen. Interessanterweise kommt diese postsowjetische Dimension bei den Autokorsos selber zum Vorschein, denn die Teilnehmer
präsentieren dort ja nicht nur russische, sondern auch kasachische und belarussische Flaggen.
Die russische Sprache spielt dabei schon eine wichtige Rolle, weswegen es nicht ganz falsch ist, von „Russischsprachigen“ zu sprechen. Aber gerade die jüngere Generation der postsowjetischen Migranten kann gar nicht immer sonderlich gut Russisch. Von daher bleibe ich bei „postsowjetischen Migranten“ als nützlichem Sammelbegriff.
Wie unterscheiden sich die russischsprachigen und russischen Communities in Deutschland? Und was versteht man unter dem Begriff „russische Diaspora"? Inwiefern ist sie homogen?
Die russischsprachigen Communities sind breit gestreut. Dazu gehören beispielsweise die vielen russlanddeutschen Spätaussiedler, die sich nicht als Russen identifizieren, aber häufig Russisch sprechen. Dort gibt es auch die Selbstbezeichnung „rusaki“. Es gibt auch den Bundesverband russischsprachiger Eltern (BVRE), dem ganz unterschiedliche deutsch-russische und andere postsowjetische Vereine angehören. Auch postsowjetische Juden in Deutschland nutzen oft die russische Sprache, auch generationenübergreifend, ohne sich als Russen zu identifizieren.
Selbstidentifizierte Russen gibt es natürlich auch – laut einer Umfrage von vor einigen Jahren gut ein Fünftel der postsowjetischen Bevölkerung. Auch sie sind nicht homogen: Darunter gibt es Familienangehörige von Spätaussiedlern und Kontingentflüchtlingen, die sich als Russen bezeichnen, aber zum Beispiel auch in zunehmenden Maße Politemigranten aus Russland, die sich vor allem in Berlin niederlassen. Diese verschiedenen Gruppen haben meist nicht viel miteinander zu tun.
Laut Kreml-nahen Meinungsforschungsinstituten unterstützt die Mehrheit der russischen Bevölkerung die Invasion in der Ukraine. Man kann von abweichenden Zahlen ausgehen, die Tendenz ist aber da. Das zeigen auch die Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums. Unterstützen auch die post-sowjetischen Migranten die Invasion oder äußern sie Kritik?
Eine Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) kurz nach Kriegsbeginn hat gezeigt, dass eine Mehrheit der postsowjetischen Migranten in Deutschland, auch jener aus Russland, diplomatischen Druck, Sanktionen und sogar Waffenlieferungen unterstützen. Auch gibt es prinzipiell eine hohe Unterstützungsbereitschaft für ukrainische Flüchtlinge. Von daher kann man nicht davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Menschen den Krieg unterstützt.
Wie stark beeinflusst russische Propaganda die Diaspora in Deutschland?
Eine Umfrage des SVR-Integrationsbarometers vor dem Krieg legte nahe, dass etwa ein Viertel dieser Menschen für russische Propaganda empfänglich ist, das erscheint als eine realistische Größenordnung. Sie schenken russischen Medien ihr Vertrauen.
Es gibt aber auch einen Effekt der Verunsicherung: Auch Leute, die nicht nur russischen Medien vertrauen und beide Seiten hören, stehen wegen der sehr konträren Narrative, die sie jeweils hören, am Ende verunsichert da. Sie können die widersprüchlichen Informationen und Einschätzungen nicht einordnen. So entsteht eine Haltung im Sinne von: „Man kann ja eigentlich gar nichts glauben.“ Und so glaubt man im Zweifel auch alles, unabhängig von der Plausibilität.
Man hört derzeit viel über Propaganda. Offensichtlich entspricht die Rhetorik des heutigen Russlands den Stimmungen der Bevölkerung, das sehe ich aus dem Internet. Warum unterstützen einige Migranten die Invasion?
Offenbar trifft die Rhetorik auf eine gewisse Resonanz, aber wohlgemerkt: offenbar nicht mehrheitlich. Zum Teil mag es die Rhetorik der „Denazifizierung“ sein, die attraktiv klingt. Zum Teil ist es vielleicht ein postimperialer Komplex, der bei den Menschen für Zustimmung zu der Invasion sorgt. Den gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands. Insgesamt braucht es aber qualitative Studien, um den Stimmungen innerhalb der Communities in Deutschland tiefer auf den Grund gehen zu können.
Am 9. Mai feiert Russland den Sieg über Nazi-Deutschland, unter heutigen Umständen sicher ein höchst provokanter Tag. Was erwarten Sie?
Der 9. Mai wird dieses Jahr sicherlich eine große Herausforderung, weil dieser Tag, noch mehr als in vergangenen Jahren, politisch aufgeladen sein wird. Als „Tag des Sieges“ hat er einen emotionalen Appeal für Menschen mit postsowjetischem Hintergrund, dort wie hier.
Man denke nur an die jüdischen Veteranen der Roten Armee, die auch hochbetagt in Deutschland zum Den' Pobedy noch stolz ihre Medaillen zeigen. Problematisch wird es, wenn aus der historischen Erinnerung ein Politikum der Gegenwart wird, in dem die Sowjetunion von damals mit dem Russland von heute identifiziert wird, und der Kampf gegen Nazideutschland mit dem Kampf gegen die Ukraine.
Was verbinden die russischsprachigen Menschen in Deutschland mit diesem Tag und warum ist es für sie immer noch so wichtig? Kann es sein, dass die Integration von post-sowjetischen Migranten nicht im vollen Umfang geklappt hat?
Das Interesse am 9. Mai hat nichts mit gescheiterter Integration zu tun, sondern ist oft auch ein Teil familiärer Erinnerung. Allerdings gibt es tatsächlich gewisse Milieus und Netzwerke, die abseits vom Rest der Gesellschaft verlaufen. Das sah man 2016 beim Fall Lisa, der sich in russischsprachigen Milieus und Netzwerken über eine Woche hochschaukelte, ohne dass deutschsprachige Akteure und Medien etwas davon mitbekommen hätten.
Derzeit passiert Ähnliches mit den Gerüchten über Anfeindungen. Das ist ein dezentrales Phänomen, die Menschen wohnen überall in Deutschland, vor allem in kleinen Städten und im ländlichen Raum. Die meisten Interaktionen passieren virtuell in relativ geschlossenen Netzwerken.
Wohin werden sich vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine die russischsprachigen Milieus entwickeln, in denen es sowohl Russen als auch Ukrainer gibt?
Die langfristigen Folgen lassen sich noch schwer abschätzen. Eine gewisse Entfremdung der hier Lebenden wird es vermutlich geben, wobei sich politische Feindschaft der Herkunftsländer nicht zwingend in Konflikte zwischen Emigrantengruppen übersetzt. Das war selbst zwischen den Angehörigen der verschiedenen ex-jugoslawischen Völker in Deutschland nicht durchgehend so. Das Aufeinandertreffen von hiesigen Putin-Freunden und ukrainischen Geflüchteten birgt sicherlich viel Konfliktpotenzial. Die Solidarität, die die Geflüchteten aus den postsowjetischen Communities in Deutschland zum Teil erfahren, dürfte sich hingegen positiv auswirken.