Nawalny

Alexei Nawalnys Leidensgenossen

Der Geheimdienst FSB verübte weitere Giftanschläge, wie Recherchen von Bellingcat zeigen

von Friedrich Schmidt
Werden in diesem Haus Giftanschläge auf Oppositionelle geplant? Zentrale des russischen Geheimndiensts FSB in Moskau.

Dmitri Bykow hat auf alles eine ebenso triftige wie witzige Antwort. Sogar darauf, dass Russlands Machthaber allem Anschein nach versucht haben, ihn, den Schriftsteller, Dichter, Kritiker und Journalisten, zu vergiften. „Es schmeichelt meiner Selbstliebe als Autor unendlich, dass ich ihnen so stark missfalle“, kommentierte Bykow die jüngste Enthüllung der Rechercheure um Bellingcat.

Sie haben Bykow als Ziel staatlicher Killer ausgemacht, wie auch andere Kritiker von Präsident Wladimir Putin, aber nicht nur solche. Putins Regime radikalisiert sich, wird gleichsam immer toxischer, offenbar sogar mit einer Todesschwadron des Geheimdiensts FSB.

Der 53 Jahre alte Bykow ist Russlands bedeutendster lebender Satiriker, ein Meister des Aperçus. Im vergangenen März wurde er vom unabhängigen Sender TV Doschd – der nur noch online senden kann – gefragt, wie das Jahr der Corona-Pandemie mit seinen Grenzschließungen Russland verändert habe.

„Ich habe verstanden, dass der Eiserne Vorhang ein optimaler Zustand für Russland ist“, antwortete Bykow. „Mir scheint, dass die Rückkehr zum Eisernen Vorhang in Russland wie die Rückkehr des Winters ist. Den Winter verstehen wir, das ist unser normales Umfeld. Im Winter sind wir glücklich. Unser russisches Blut ernährt sich von Frost. Der Aufenthalt hinter verriegelten Grenzen ist unsere normale existenzielle Situation.“

Es verwundert nicht, dass Bykow mit seinem an Totalitarismusgeschichte und enzyklopädischem Literaturwissen geschulten Blick seit Langem ein Gegner Putins ist: Dessen Humor arbeitet nicht mit dem Skalpell, sondern dem Hammer. Zudem ist der Präsident nach allem, was man weiß, schnell gekränkt und nachtragend.

In Bykows üppigem Werk finden sich viele spitze Verse über Putin. In der Protestwelle gegen Wahlfälschung und Putins Rückkehr ins Präsidentenamt nach einem Intermezzo als Ministerpräsident vor bald zehn Jahren war Bykow einer der Wortführer. Ein Plakat von damals zeigt den korpulenten, dionysisch lächelnden Publizisten mit einem Plakat. „Nicht das Boot schaukeln, unserer Ratte wird übel“, steht darauf, dazu sieht man ein Ruderboot und das leidende Tier.

Der erste Teil der Aussage bezieht sich auf einen Ausspruch Putins in der Duma, mit dem der damalige Ministerpräsident der Opposition 2011 nahelegte, ruhig zu bleiben. Der zweite Teil ist Spott auf Putin, der einst erzählte, ihm habe in der Jugend imponiert, wie eine in die Ecke gedrängte Ratte auf einmal zum Angriff übergegangen sei.

Im Hintergrund des Fotos ist der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny zu sehen. Der Satiriker plädierte damals vor Demonstranten für ein freies und glückliches Russland, ähnlich wie Nawalny im vergangenen Februar vor dem Moskauer Gericht, das den Rückkehrer aus Deutschland in Lagerhaft schickte.

In Deutschland war der Politiker nach seiner Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok behandelt worden. Bellingcats Recherchen dazu haben nun ergeben, dass Bykow vermutlich Opfer eines Giftanschlags derselben Täter aus dem Geheimdienst FSB geworden ist wie Nawalny.

Im April 2019 war der Publizist auf einem Inlandsflug von Jekaterinburg nach Ufa zusammengebrochen, mit den gleichen Symptomen wie Nawalny, der im vergangenen August auf einem Inlandsflug von Tomsk nach Moskau kollabierte: Schweiß, Übelkeit, Atemnot, das Gefühl zu sterben.

Sogar bei der Rettung gibt es Parallelen. Nawalnys Flugzeug landete außerplanmäßig in Omsk, wo Ärzte unterschiedliche Erklärungen für sein Koma verbreiteten, ehe ihn ein Rettungsflugzeug nach Deutschland brachte. Dort wurde die Vergiftung mit Nowitschok festgestellt, was unter anderen die Organisation für ein Verbot chemischer Waffen (OPCW) bestätigte.

Bykow hingegen wurde aus Ufa mit einem von der kremlkritischen Nowaja Gaseta geschickten Rettungsflugzeug, dessen Landung die Behörden zunächst verhindern wollten, nach Moskau gebracht. Dort erwachte er aus dem Koma. Zunächst hieß es, Bykow habe einen Schlaganfall erlitten, dann gab es, wie bei Nawalny, einen Strauß anderer Erklärungen; die Moskauer Ärzte erkannten auf Nahrungsmittelvergiftung, fanden aber keinen konkreten Grund.

Flug- und Telefondaten als Belege

Nach Nawalnys Vergiftung hatten Bellingcat und seine Recherchepartner rekonstruiert, wer wann in der Nähe des Politikers war. Das gelang ihnen mithilfe von Fluggast- und Telefonverbindungsdaten, die in Russland leicht zu erwerben sind. Die Rechercheure stießen auf ein Netz von Agenten aus der FSB-Zentrale und dem Institut für Kriminalistik des Geheimdiensts, die Nawalny seit 2017 auf dessen Reisen durch Russland beschattet hatten, auch auf der Reise nach Sibirien im vergangenen August.

Danach prüften die Journalisten, ob diese Agenten auch bei anderen rätselhaften medizinischen Notfällen in der Nähe waren. So kamen sie hinter die Arbeit der vermutlichen Todesschwadron. Sie stießen auf ein Netz aus Chemikern des FSB-Instituts sowie Agenten der Abteilung „für den Schutz der Verfassungsordnung und den Kampf gegen Terrorismus“.

Auch Bykow hatten die Agenten demnach knapp ein Jahr vor dem Vorfall im Flugzeug regelmäßig verfolgt. Die Rechercheure vermuten, dass das Gift schon in einem Nowosibirsker Hotelzimmer auf Bykows Kleidung aufgetragen wurde, vermutlich auf ein T-Shirt, während der Dichter in der Nähe bei einer Veranstaltung zur Sprachförderung auftrat; zwei Agenten, die knapp eineinhalb Jahre später auch während Nawalnys Aufenthalt in Tomsk sein würden, hatten Bykow in die Stadt begleitet.

Das T-Shirt zog Bykow wohl erst drei Tage später in Jekaterinburg an; womöglich rettete den Dichter das Ausziehen des Hemds im Krankenwagen. Auf seinem Rücken wurde, so schilderten es Bykow und Bellingcat, ein faustgroßer Fleck entdeckt, der schuppte, verkrustete, juckte und nach etwa einem Monat verheilte.

Nowitschok ist auch in Russland verboten

Sollte auch Bykow mit Nowitschok vergiftet worden sein, ist es nicht verwunderlich, dass das Gift nicht in Russland festgestellt wurde. Den Kampfstoff umgibt ein Staatsgeheimnis, er ist auch in Russland verboten. 1995 wurde in Moskau ein Banker tödlich vergiftet, auch dessen Sekretärin und ein Gerichtsmediziner kamen um. Nach schwierigen Ermittlungen kam heraus, dass die zunächst „unbekannte“ Substanz die Eigenschaften eines Kampfstoffs aus der Nowitschok-Gruppe aufwies – und selbst dann war wegen Geheimhaltung in den Gerichtsakten noch von einer „Substanz nach Art von VX“ die Rede, einem amerikanisch-britischen Nervengift.

Damals hatte ein an der Entwicklung beteiligter Chemiker Nowitschok in kleinen Dosen an Kriminelle verkauft; der Mann wurde deshalb verurteilt, tritt heute aber regelmäßig in Moskaus Staatsmedien auf, um Vorwürfe zu Nowitschok-Einsätzen entgegenzutreten. Das gehört ebenso zur russischen Abwehrtaktik wie die Geschichte, Bellingcat sei ein verlängerter Arm westlicher Geheimdienste.

Für die Verlässlichkeit des Investigativprojekts spricht aber, dass seine Recherchen mehrmals von Staatsanwaltschaften bestätigt worden sind, so im Fall des Abschusses des Passagierflugs MH17 über der Ostukraine 2014, dem Nowitschok-Anschlag im englischen Salisbury 2018 und dem Mord im Berliner Tiergarten 2019.

In diesen und anderen Fällen mauert Moskau und versucht, die Legitimität der Justizarbeit in Zweifel zu ziehen. In Russland wird, anders als noch nach dem Mord an dem Banker 1995, nun nicht wegen mutmaßlicher Nowitschok-Einsätze ermittelt. Nicht im Fall Nawalny, was die Behörden unter anderem damit zu rechtfertigen suchen, dass Berlin die Zusammenarbeit mit Russland verweigere.

Dabei ist Russland selbst Mitglied der OPCW, welche die Vergiftung bestätigt hat. Zudem hatten die russischen Behörden selbst zahlreiche Proben des Politikers. Nawalnys Mitstreiter veröffentlichten dieser Tage sogar einen Auszug aus der Omsker Krankenakte Nawalnys, in deren Besitz sie durch einen Trick kamen – „alles mit den Vorgesetzten abgestimmt“, sagten sie im Krankenhausarchiv.

Manipulierte Krankenakten

Aus der Akte geht hervor, dass das Moskauer Sklifosowski-Institut vergangenen Sommer in einer Untersuchung ein kritisch niedriges Niveau von Cholinesterase im Blut von Nawalny fand. Dieses Enzym ist überlebenswichtig. Cholinesterasehemmer können bei Gesunden und in Überdosierung zu einer Überstimulation von Muskeln und Nerven führen. Sie können Muskel- und Bauchkrämpfe, Atemlähmung und Herzstillstand hervorrufen.

Am Tag vor der Untersuchung in Moskau hatte die Berliner Charité mitgeteilt, dass ihr Patient „mit einer Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterasehemmer“ vergiftet worden sei. Dort wurde Nawalny seit dem 22. August behandelt. Zu den Cholinesterasehemmern zählt Nowitschok, das ein Bundeswehrlabor wenig später identifizierte.

In der Krankenakte, die Nawalnys Leuten auf eine offizielle Anfrage ausgehändigt wurde, waren etliche Angaben verändert worden. Das Moskauer Untersuchungsergebnis zum niedrigen Cholinesterasewert fehlte ganz. Kein Wunder: Es zeigt, dass Moskau selbst über Ergebnisse verfügt wie die westlichen Labore und die OPCW, dass also durchaus Anlass für Ermittlungen besteht – und dass die Staatsdiener bis hin zu Putin selbst die Fakten verdrehen.

Weitere Anschlagsopfer

Vor diesem Hintergrund spricht es Bände, dass auch im Fall Bykow nicht ermittelt wird. Ebenso wenig wie im Falle zweier Vergiftungen, die Bellingcat im vergangenen Februar dem FSB-Tötungskommando zugeordnet hat: 2015 und 2017 traf es den Moskauer Journalisten und Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa; er überlebte knapp. Beide Male wurde er von Moskauer Ärzten gerettet. Er erholte sich später in den Vereinigten Staaten, wo seine Frau und seine Kinder aus Sicherheitsgründen leben.

Folgt die Auswahl der Opfer einem Muster?

Nawalny ist Putins wichtigster politischer Gegner; Kara-Mursa, ein Mitstreiter des 2015 erschossenen Boris Nemzow, engagiert sich seit Jahren für westliche Sanktionen gegen korrupte russische Funktionäre und Menschenrechtsverletzer. Nachdem auch Bykow als Anschlagsopfer ausgemacht wurde, war bei einigen wenigen in Russland das Entsetzen groß, dass sogar ein Dichter Opfer des Apparats werden könnte. Nur eine Minderheit verfolgt solche Nachrichten überhaupt – die Staatsmedien schweigen dazu, man muss im Internet suchen. Man erklärte sich Bykows Vergiftung dann mit seiner Rolle in der früheren Protestbewegung und mit seiner Nähe zu Nawalny. Und damit, dass schon etliche andere Oppositionelle wegen scharfer Worte ermordet worden sind.

Putin sagte zum Attentat auf Nawalny, hätten die Agenten ihn wirklich töten wollen, „hätten sie es wohl zu Ende gebracht“. So professionell arbeitet der FSB, dass Mordanschläge nicht scheitern würden, soll das heißen.

Doch Bellingcat hat auch drei vollendete Tötungen dem FSB-Kommando zugeordnet. Zwei davon ereigneten sich im Nordkaukasus und betreffen Männer, die aneckten: einen kritischen Journalisten 2014 und einen Aktivisten für Minderheitenrechte 2015. Im dritten Fall traf es mit Nikita Issajew einen Mann, der regelmäßig im Staatsfernsehen auftrat, der seinen Kampf gegen Korruption in harmlosen Bahnen hielt, Putin lobte, Nawalny verdammte und zudem eine der vom Kreml gehaltenen Scheinoppositionsparteien beriet.

Issajew starb im November 2019 in einem Nachtzug von Moskau nach Tambow, wo er in seinen letzten Worten vermutete, vergiftet worden zu sein; offiziell erlag er einem Herzinfarkt. Auch in seinem Fall fand Bellingcat anhand von Passagierdaten Hinweise auf eine Beschattung durch FSB-Agenten ein Jahr vor seinem Tod.

Manche vermuteten, Issajew sei als „Verräter“ zum Ziel geworden, etwa weil er geplant habe, sich ins Ausland abzusetzen. Andere vermuteten, womöglich sei Issajew aufgrund seiner körperlichen und altersmäßigen Ähnlichkeit zu Nawalny Opfer geworden, gleichsam als Testlauf. In diesem Fall wären nicht nur Regimegegner von der außergerichtlichen Tötung bedroht, sondern auch kremlkonforme Akteure.

Putin sagte jüngst in einem Interview zum Fall Nawalny, man habe „nicht die Angewohnheit, jemanden zu töten“. In einem Gastbeitrag für das Onlineportal der Zeitung Die Zeit schrieb er in dieser Woche von „gemeinsamen Werten“ mit Europa.

Doch charakteristisch für seine Herrschaft wird immer mehr die völlige Straflosigkeit der Sicherheitsbehörden, insbesondere des FSB, an den der Präsident den Kampf mit der Opposition gleichsam ausgelagert hat. Seit Kurzem gelten Nawalnys Mitstreiter sogar laut einer Gerichtsentscheidung als „Extremisten“ und fallen damit auch offiziell unter die Zuständigkeit der FSB-Abteilung für den „Schutz der Verfassungsordnung und den Kampf gegen Terrorismus“.

Bellingcat untersucht weitere suspekte Todesfälle. Es gibt auch noch mehr unerklärte Reisen von Mitgliedern des Tötungskommandos, innerhalb Russlands, nach Belarus, in die Ukraine.

Kara-Mursa und Nawalny kehrten nach Russland zurück, auch Bykow will vorerst nicht ins Ausland, trotz der Gefahren. Er gefalle doch vielen nicht, sagte der Dichter dem Radiosender Echo Moskwy, in dem er eine eigene Sendung hat. Manchen gefielen seine Verse nicht, anderen die Rhythmen, dritten die Alliterationen. „Ich schließe nicht aus, dass diese Leute sich entschließen, ihre Kritik zu einem logischen Ende zu führen“, sagte Bykow ironisch über mögliche neue Anschläge. „Ausreiseträume sind russischer Nationalsport. Aber in meiner Biografie weist bisher nichts darauf hin, dass ich wegwill.“

Bykow tritt weiter vor Publikum auf, doziert über Harry Potter und Sherlock Holmes oder, am kommenden Samstag in Sankt Petersburg, über den Dichter Joseph Brodsky. Das Thema seines Vortrags: „Liebe und Ressentiment“.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 27.6.2021 in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erschienen / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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