Der brave Soldat Pawel Filatjew
Der russische Fallschirmjäger Pawel Filatjew rechnet mit Putins Krieg in der Ukraine ab
Als der 34-jährige Fallschirmspringer Pawel Filatjew vor drei Wochen seinen erschütternden Erfahrungsbericht „ZOV 56“ im Internet veröffentlichte, verstieß er gegen eine Reihe russischer Gesetze, die seit Kriegsbeginn neu eingeführt oder verschärft wurden: Er „diskreditierte“ die russischen Streitkräfte, er bezeichnete die Spezialoperation als „Krieg“, er verbreitete „falsche“ Informationen über russische Behörden, er „verletzte“ die Interessen der Staatssicherheit, er beging „Landesverrat“.
Diese Tatbestände werden mit drakonischen Strafen von bis zu zwanzig Jahren Haft geahndet. Filatjew war deshalb gut beraten, nach der Publikation seines 141 Seiten langen Textes jeden Tag an einem anderen Ort zu übernachten. Vor kurzem ist er aus Russland geflohen, sein Aufenthaltsort ist unbekannt.
Filatjew prangert gravierende Missstände in der Armee an und verurteilt den russischen Angriffskrieg in der Ukraine mit scharfen Worten. Der Titel spielt auf die Propagandazeichen Z und V des Kremls an, bedeutet aber auf Russisch gleichzeitig „der Ruf“. „56“ steht für die Einheit, in der Filatjew diente.
Er schreibt ein sehr umgangssprachliches, bisweilen sogar unflätiges Russisch, entwickelt aber mit seinem atemlosen Duktus einen beeindruckenden Erzählfluss. Der Text weist auch einige Grammatik-, Orthographie- und Interpunktionsfehler auf.
In einem ersten Teil berichtet Filatjew, wie er wegen einer Augenverletzung aus dem Kriegsgebiet nach Sewastopol evakuiert wurde. Dann blendet er zurück und beschreibt seine Kindheit in einer Soldatenfamilie, seine Arbeit auf einem Reithof, seinen Wunsch, nach Australien oder Kanada auszuwandern. Allerdings machte ihm die Pandemie einen Strich durch die Rechnung, und so meldete er sich als Zeitsoldat bei der russischen Armee.
Dort wurde er mit unhaltbaren Zuständen konfrontiert: Er bekam keine passende Uniform, das Essen war karg und halb roh, man stellte ihm keinen Schlafplatz zur Verfügung, die Offiziere behandelten die Untergebenen ohne Respekt, die sanitären Verhältnisse waren prekär, die medizinische Versorgung ein Witz, militärische Übungen mit enormen Wartezeiten fanden nachts in eisiger Kälte statt, er erhielt erst nach vier Monaten eine eigene Waffe, die allerdings verrostet war, einen gerissenen Riemen hatte und sich nach wenigen Schüssen verklemmte.
Tagebuch des Kriegs
Der zweite Teil ist ein Tagebuch des russischen Angriffs auf die Ukraine – Filatjew gehörte zu einer Einheit, die von der Krim aus nach Cherson vorstieß. Er schildert die absolute Orientierungslosigkeit der russischen Soldaten, die über keinerlei Informationen verfügten. Man fragte sich: „Eröffnen wir das Feuer auf die angreifenden Ukrainer? Oder auf die Nato? Oder greifen wir an?“
Gerüchte machen die Runde: In drei Tagen soll Kiew fallen, Offiziere kündigten an, der Krieg sei in zwei Wochen beendet. Filatjew schreibt offen über die „Begeisterung“ und „Erregung“ beim Angriff: „Das Gefühl der enormen Macht, von der du ein Teil bist, berauscht dich.“
Die Erzählperspektive von unten erinnert an Tolstois berühmte Darstellung der Schlacht von Borodino in „Krieg und Frieden“, die als unüberblickbares Chaos erscheint. Filatjew hebt hervor, dass auf dem ukrainischen Gebiet bei vielen Häusern die Nationalflagge wehte und die Gartenzäune gelb-blau gestrichen waren. Er gesteht, dass ihm der ukrainische Patriotismus Bewunderung abrang.
Die lokale Bevölkerung empfing die russischen Besatzungstruppen mit „grimmiger Miene“, die Alten bekreuzigten die Soldaten von Ferne, was in ihm einen ambivalenten Eindruck hervorrief: Man habe das Kreuzeszeichen als Segnung oder als Verabschiedung ins Jenseits deuten können.
Nach der Einnahme von Cherson führten sich die Soldaten wie die „Barbaren in Rom“ auf und plünderten Privatwohnungen und Geschäfte. Angehörige der Sondereinheiten weigerten sich, Protestdemonstrationen aufzulösen, weil sie sich nicht den erbosten „Okkupanten!“-Rufen von Frauen und Alten aussetzen wollten. Filatjew erwähnt auch Kriegsverbrechen, von denen er allerdings nur gehört hatte: Eine Mutter starb mit ihren Kindern in einem Privatwagen, der von einem russischen Schützenpanzer beschossen wurde.
Kein „moralisches Recht“ zum Angriff
Im dritten Teil formuliert Filatjew eine scharfe Anklage gegen den Krieg: Russland habe kein „moralisches Recht“ gehabt, die Ukraine anzugreifen. In der russischen Militärorganisation herrschten „schreckliche Korruption und Chaos“. Im Zerfall der Armee spiegle sich die Dekadenz des Staats.
Filatjew benennt offen die Sinnlosigkeit des Kriegs: „Hat Russland nicht genug Territorium? Haben nicht alle, die in Russland leben wollen, schon russische Pässe erhalten und sind zu uns gezogen?“
Filatjews Bericht gipfelt in einer Schmährede gegen die „Biomassen mit russischen Pässen“, die der Schlächterei in der Ukraine gefühllos gegenüberstehen: „Wo wart ihr, als wir ums Leben kämpften, verletzt wurden und Entbehrungen litten? Wo?! Ihr habt um eure Behaglichkeit gebangt und wart nicht in der Lage, zum Verwaltungsgebäude zu gehen und ‚Kein Krieg!‘ zu sagen, weil ihr Angst hattet, eine Buße zu bekommen.“
Er greift auch die russische Elite an: „Ich sehe in den Schützengräben keine Kinder von Skаbejewa, Solowjow, Kisseljow, Rogosin, Lawrow, Medwedew, dafür höre ich ständig von ihnen, dass man töten müsse.“
Es gehört zu den Qualitäten des Berichts, dass Filatjew sich selbst nicht von seiner radikalen Kritik ausnimmt: „Ich schäme mich, dass ich all dies nicht korrigieren kann und auch nicht weiß, wie man es macht.“
Die russischen Staatsmedien verschweigen den Bericht und die darin enthaltenen Anklagen konsequent. Unterstützung erhielt Filatjew vor allem vom Menschenrechtler Wladimir Osetschkin, mit dem er auf der Website Gulagu.net („Nein zum Gulag“) ein über dreistündiges Gespräch führte. Osetschkin war bereits 2015 nach Frankreich emigriert, als ihm die russischen Behörden mit einem fragwürdigen Gerichtsverfahren gedroht hatten.
Auf dem oppositionellen Sender TV Rain, der nur noch auf Youtube senden kann, erschien ein weiteres Interview. Das Video hat innerhalb einer Woche über 1,5 Millionen Zuschauer erreicht. Filatjew unterstrich in dieser Stellungnahme, dass er ein russischer Patriot sei und nichts Negatives über seine Kameraden sagen wolle. Schon in seinem Bericht machte er deutlich, dass er lange mit sich gerungen hatte, bevor er an die Öffentlichkeit trat: „In mir selbst hört der innere Dialog aus einem Cocktail von Gewissen, Patriotismus und gesundem Menschenverstand nicht auf.“
Es ist kaum möglich, die Echtheit des Berichts zu überprüfen. Zahlreiche westliche Medien haben über den Fall berichtet. Immerhin gibt es Fotodokumente, die grundlegende Angaben zu bestätigen scheinen. Jedenfalls würde Filatjews „ZOV 56“ das Scheitern des russischen Angriffskriegs auf überzeugende Weise erklären.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 21.8.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung