Russimanie
Der Slawenkult der französischen Hochküche
#2 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Was machte man vor hundert Jahren, wenn man einen alltäglichen französischen Namen hatte und sich trotzdem als Gourmet profilieren wollte? Für Maurice-Edmond Sailland, einen aus dem Anjou stammenden Journalisten, der sich in Paris mit Skandalromanen einen gewissen Namen erschrieben hatte, war die Antwort klar. Ein Pseudonym musste her, am besten ein slawisch klingendes. Edmond entschied sich für ein witziges Sprachspiel, wählte die lateinische Frage cur non (warum nicht?) und hängte ein adlig kyrillisch klingendes sky als Suffix an.
Die Täuschung gelang. Als Curnonsky wurde der bürgerliche Provinzler zum geistigen Vater des Guide Michelin, zum „Prinz der Gastronomen“, zur unangefochtenen französischen Autorität in Sachen Restaurantkritik.
Die Täuschung gelang deswegen, weil der Name Curnonsky die Erwartungshaltung des zeitgeistigen Publikums traf. Slawophone adlige Lebemänner, die etwas von der feinen Tafel verstanden, gehörten zu den Attraktionen des Pariser Gesellschaftsleben, zum exzentrischen Stammpublikum des Casinos von Monaco und nicht zuletzt zum Dauerurlaubermix von Nizza und der Côte d’Azur. Der Lieblingsbadeort der Romanow-Zaren, der die größte russisch-orthodoxe Kathedrale außerhalb des Mutterlandes beherbergt, war für seine folies russes, für seine champagnergeschwängerten Extravaganzen berühmt.
Russische Einflüsse auf die Haute Cuisine
Dieser Ruf, kulinarische Feste zu organisieren, überlebte auch die Oktoberrevolution. Denn viele Adlige flohen vor den Sowjets in ihre alten Ferienasyle und schlugen sich als Taxifahrer, Nachtclubbetreiber, Gastronomen oder Kaviarimporteure durch. Bis heute hat sich nahe der Champs-Élysées eine russische kulinarische Enklave erhalten.
Diese Präsenz hat ihre markanten Spuren in der französischen Speisekarte hinterlassen. Wer bei russischer Küche nur an Mayonnaisesalat, Hähnchen in weißer Sauce, Salzgurken oder an einstige kommunistische Mängelverwaltung denkt, wird staunen, wenn er ein Kochbuch der haute oder grande cuisine durchblättert.
Die stilprägenden französischen Starköche des 19. und frühen 20. Jahrhundert betrieben einen regelrechten Russlandkult. Schließlich setzte auch der Zarenhof in Sankt Petersburg auf französische Hofköche, deren prominentester 1819 der große Marie-Antoine Carême war.
Kulinarische Russlandbewunderung
Auch wenn die nachfolgenden weltläufigen Rezepte aufgrund des auf dem Vormarsch befindlichen Regionalkults immer schwerer zu bekommen sind, so bleibt diese langjährige kulinarische Russlandbewunderung doch frappant. Wobei einige Klassiker wie die slawisch mit Sauerrahm abgeschmeckten Filetspitzen des Bœuf Stroganoff tatsächlich aus urrussischer Tradition stammen dürften. Andere wie die getrüffelte Poularde Demidoff des Starkochs Auguste Escoffier oder der mit Champignon- und Zwiebelmus bestrichene Kalbsrücken Orloff des Zarenkochs Urbain Dubois stellen eher eine kulinarische Hommage an Prominente der Epoche dar.
Auch beim Dessert steht à la russe für Luxus. Etwa bei Fraises Romanoff, frischen Erdbeeren mit Sahne und kandierten Veilchen oder der in der französischen Schweiz beliebten Coupe Nesselrode aus aufmontiertem Maronenpüree, die einem baltendeutschen Botschafter des Zaren gewidmet ist.
Wer heute einen der zahlreichen traitteurs russes in Paris aufsucht, wird eher Produkte wie geräucherten Fisch, Störrogen, Tee oder osteuropäische Wurstwaren angeboten bekommen. Die feinsten Etablissements bleiben allerdings stolz darauf, russischen Coulibiac, eine aufwendige, in Briocheteig gebackene Lachspastete zu zaubern.
Russische aktuelle Küche muss kein Revival einer verschwenderischen Adelsküche sein. Aber es ist für Selbstbewusstsein und Kreativitätspotenzial hilfreich, sich des gesamten kulinarischen Erbes einer Nation bewusst zu werden.
Zumal die russische Präsenz in Paris uns auch den volkstümlichen Begriff Bistro und eine Speisesitte beschert hat, von der wir alle zehren. Der service à la russe, das heute allgemein übliche schnelle Servieren auf vorportionierten Einzeltellern wurde zum ersten Mal um 1810 in der zaristischen Botschaft in Clichy praktiziert. Die nur kurz aufwartenden Diener sollten keine Chance haben, die geheimen Gespräche der Diplomaten mitzuhorchen.
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