Verzweifelte Kunstfeste
Ob Polizeikomödie, Dichterkabarett oder Dokumentardrama für Jugendliche – die russischen Theater spielen um ihr Leben
Das Moskauer Theaterleben gleicht angesichts steigender Corona-Infektionszahlen bei fehlenden staatlichen Unterstützungsprogrammen einem verzweifelten Kunstfest zu Zeiten der Pest. Die Ensembles, die ihren Unterhalt bestreiten müssen, spielen in dichtbesetzten Sälen vor Zuschauern, die Masken tragen und zum Nebenmann jeweils einen Platz frei lassen. An vorsorgliche Schnelltests für Solisten ist schon aus Kostengründen nicht zu denken, Krankheitsfälle führen nur zu kurzfristigen Umbauten im Spielplan. Dass der Dirigent und Musikalische Leiter des Petersburger Michailowski-Theaters, Alexander Wedernikow, Ende vorigen Monats einer Corona-Infektion erlag – zwei Wochen nachdem er mit einer Premiere von Petro Mascagnis "Cavalleria Rusticana" die Saison eröffnet hatte –, erschien fast wie eine Nachricht im Frontbericht. Vorige Woche starb der 84 Jahre alte Moskauer Regisseur Roman Viktjuk ebenfalls an Corona. Sowohl das Michailowski- wie auch das Viktjuk-Theater spielen unterdessen weiter.
Das unabhängige Moskauer Dokumentartheater "teatr.doc" brilliert dieser Tage mit der äußerst aktuellen und erfolgreichen schwarzen Polizeikomödie "Der Mann aus Podolsk", worin der Autor Dmitri Danilow einen gewöhnlichen russischen Schlafstadtbewohner in die Situation von Franz Kafkas "Prozess" versetzt. Bevor es losgeht, bittet eine Theatermitarbeiterin das Publikum inständig, die Masken aufzubehalten – ansonsten würde das schon mehrfach zum Umzug gezwungene Haus von den Behörden geschlossen. Dann wird der hier traditionell fast requisitenfreie Kammersaal zur Polizeiwache, wo ein junger Geistesproletarier (schüchtern und nüchtern: Anton Iljin) fragt, warum er verhaftet wurde. Die Beamten erklären, das würden sie noch herausfinden – in diese Situation kann im heutigen Russland praktisch jeder geraten. Als Zuschauer erwartet man untergeschobenes Rauschgift, Folterszenen, die aber nur angedroht werden. Danilows Polizisten erweisen sich als wohlmeinende Psychotherapeuten, die den Helden besser kennen als er sich selbst.
Das Verhör ermittelt, dass das Polizeiopfer bei der Mutter wohnt, täglich stundenlang zur Arbeit unterwegs ist, von seiner Frau verlassen wurde, sich selbst als "Loser" betrachtet und vom fernen Amsterdam träumt. Der Polizeioffizier (mit Verve verkörpert von Igor Stam, der auch Regie führt) ist entsetzt, dass der Podolsker "wie ein Tier" bloß mechanisch existiere und seine Umgebung gar nicht mehr wahrnehme. Flankiert von einem bulligen Kollegen (furchterregend: der Stuntman Viktor Kusin), erklärt er dem Helden Eckdaten der Geschichte des heute zum Moskauer Großraum gehörenden Podolsk, dessen unerschöpfliche "fünfzig Grautöne" ihm Darja Gainullina als attraktive Polizistin unter Einsatz all ihrer Reize ans Herz legt. Die gleichsam halbgöttlichen Beamten parlieren aber auch kenntnisreich über Industrial Rock, klassische Avantgarde und Wladimir Sorokin. Kein Wunder, dass sie ihrem Gefangenen als Zwangstherapie absurdistische Sprachübungen und Kollektivtänze aufnötigen, bei denen insbesondere der bärbeißige Kusin sich als akrobatischer Virtuose hervortut.
Im Meyerhold-Zentrum hat unterdessen das Stück "Zuckerkind" über die kleine Moskauerin Stella Premiere, die als Tochter eines "Volksfeindes" während des Stalin-Terrors nach Kirgisien deportiert wurde, inszeniert von der jungen Regisseurin Polina Struschkowa. Der wahren Geschichte des Kindes einer jüdischen Bildungsfamilie, die dank ihrer Erziehung und literarischen Kultur unter einem totalitären Regime so etwas wie unabhängiges Denken und persönliche Würde bewahren konnte, liegt das gleichnamige Erinnerungsbuch der Bibliothekarin Olga Gromowa zugrunde. Der Text und das Stück heben hervor, wie die indirekte und poetische Sprache ein Vehikel für Verständigung und Freiheit werden kann. Und die Trostformel der Mutter, freie Menschen seien nicht zu versklaven, scheint sich zu bestätigen, als einzelne Kinder dem aus der Pionierorganisation ausgeschlossenen Mädchen ostentativ die Freundschaft halten.
Einige Zuschauer bleiben noch zur anschließenden Diskussion mit einer Theaterdidaktikerin des Meyerhold-Zentrums, die anmerkt, derzeit werde Stalin wieder rehabilitiert. Eine Besucherin gibt sich beeindruckt, wie in dem Stück die von der Obrigkeit malträtierte Mutter gleichwohl ihr Kind nachdrücklich zu geistiger Eigenverantwortlichkeit anhält. Ihr achtjähriger Sohn findet es schlimm, dass in dem Drama die Lehrer der klugen Heldin ungerechtfertigt schlechte Noten geben. Ein zehnjähriges Mädchen betrauert, dass ein Lageraufseher das Kind, als es über die Absperrung hinweg nach einer Blume griff, dafür zusammenschlug. Umso auffälliger ist die Reserve der älteren, offenbar stärker unter dem Druck ihres Kollektivs stehenden Kinder. Ein Vierzehnjähriger sagt, er fände die Offenherzigkeit der Heldin schwer erträglich. Und ein etwa gleichaltriges Mädchen bekennt, aus ihrem Bekanntenkreis könnten sich wohl die wenigsten für so ein Stück erwärmen.
Der Regisseur Kirill Serebrennikow lobte seinen verstorbenen Kollegen Viktjuk auf Instagram für dessen künstlerische Unabhängigkeit – was auch mit dem erotischen Schicksal beider Künstler zu tun haben mag. In dem von Serebrennikow geleiteten Gogol-Center ist ein Hit der Saison das literarische Cabaret "Die Forelle durchbricht das Eis" nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus des Petersburger Dichters Michail Kusmin (1872 bis 1936), der die fragile Eleganz des "Silbernen Zeitalters" in die Stalin-Ära hinüberrettete. Der russischsprachige lettische Regisseur Wladislaw Nastawschew macht daraus einen Lebensbilderbogen dieses verfeinerten homosexuellen Autors, der wie der sowjetische Außenminister und Mozart-Experte Georgi Tschitscherin, mit dem er befreundet war, die zerstörte aristokratische Kultur in der eigenen Person bewahrte und weitertrug.
Nastawschew hat dazu ein abgeschrägtes Bühnenpodest in der Form eines fünfzackigen Sowjetsterns aufgebaut, auf dem der Schauspieler Ilja Romaschko als reifer Kusmin herumklettert, mit Gummimaske als dessen hinfälliges Greisen-Alter-Ego fast herunterrutscht und auf dem Serebrennikows amerikanisches Ensemblemitglied Odin Biron als Countertenor Kusmins Verse auf von Nastawschew komponierte Chansons intoniert. Als Objekt der poetischen Begierde erscheint Kusmins Geliebter, der später unter Stalin ermordete Künstler Juri Jurkun (mit tänzerischer Anmut: Michail Troinik), dessen elegante Schauspielergattin Olga Hildebrandt-Arbenina den Conférencier des Abends gibt. Der trotz Corona-Abstandsregeln vollbesetzte Saal lauscht der verrätselten Lyrik, die, an Schuberts Lied von der Forelle und an Richard Wagners "Verletzten Ozean" im Tristan anspielend, der Elementarkraft der Liebe huldigt, dies aber, nach Kusmins Geschmack, im Stil der leichten Muse.
Dass der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin angesichts der weiterhin hohen Neuinfektionszahlen die erlaubten Zuschauerzahlen nun auf maximal 25 Prozent herabsetzte, verschärft die finanziell prekäre Lage der Theater noch einmal. Der für seine Performance-Projekte im sozialen Raum berühmte Regisseur Wsewolod Lissowski lädt deswegen zum "Festival des verschimmelten Theaters" ins Swerew-Zentrum für zeitgenössische Kunst, um unter dem Motto "Wir sind bloß der Traum eines großen Waldes" – gemeint ist unser Planet – die Hinfälligkeit des Menschen zu preisen. Weder Lissowski noch die Mehrheit der vor allem jugendlichen Gäste tragen Masken. Der Künstler lässt Tafeln mit Textfragmenten von Anton Tschechow, Sophokles und dem vom Kater eines Moskauer Theaterkritikers getippten Buchstabensalat impfen, die diese "Kulturzeichen" transformieren sollen. Dann setzt Lissowski sich mit einem Freund, den er als sein Alter Ego vorstellt, draußen auf eine Bank und leert mit ihm eine Flasche Wodka. Der Mensch habe sich überlebt, philosophiert Lissowski, die Versammlungsverbote ließen von der Kultur nur die einsame Erfahrung übrig. Deswegen hat er "Hundert Tage des totalen Spektakels" ausgerufen, während derer er und seine Mitstreiter an wechselnden Orten in Moskau metaphysische Aktionen abhalten wollen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: FAZ, 23.11.2020, Feuilleton / Alle Rechte vorbehalten. Copyright Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.