Ende der Sowjetunion

Sowjetunion: Abgesang mit Mahler

Gorbatschows letzte Tage: Als ein Jugendorchester das Ende der Sowjetunion begleitete

von Corina Kolbe
Üben für die Sowjetunion: Claudio Abbado bei einer Probe mit einem Jugendorchester in Berlin, 1988.

Mitte Dezember 1991 machten sich rund 130 Nachwuchsmusiker aus allen Teilen Europas zu einer einmaligen Weihnachtstournee auf: Mit dem weltbekannten Dirigenten Claudio Abbado reisten sie nach Russland, um Konzerte in Moskau und St. Petersburg zu spielen. Für knapp zwei Wochen bildeten sie ein neues Orchester, das zwei unterschiedliche Europa-Visionen in sich vereinte.

„Ich bekomme heute noch eine Hühnerhaut, wenn ich daran zurückdenke“, sagt die Oboistin Barbara Tillmann. Zusammen mit der Cellistin Anita Jehli sitzen wir an einem regnerischen Herbsttag dreißig Jahre später auf der Terrasse eines Cafés am Zürcher Limmatquai. Dass sie auf ihrer Reise nach Moskau und St. Petersburg die letzten Tage vor der Auflösung der Sowjetunion miterlebten, wurde den beiden erst später bewusst.

Kurz vor der Landung in Moskau mischte sich die Vorfreude auf die Konzerte mit einem Gefühl der Beklommenheit. Denn das Bild, das der Westen von Russland hatte, war nicht zuletzt auch durch die Zeit des Kalten Kriegs geprägt. Es war eine Fahrt ins Ungewisse, in eine fremde Welt.

„Als wir über die Stadt hinwegflogen, haben wir nichts gesehen. Alles war dunkel, es fehlte das übliche Lichtermeer, das wir von anderen Großstädten kannten“, erzählt Jehli, die heute als Solocellistin bei der Camerata Schweiz und im Ensemble Pyramide spielt. „Nach der Ankunft war es fast unheimlich, durch kaum beleuchtete Straßen zum Hotel gefahren zu werden.“

In Moskau war es bitter kalt, draußen lag schmutzig-grauer Schnee. Vor Geschäften bildeten sich lange Warteschlangen. „Die große Armut der Menschen werde ich nie vergessen“, meint Jehli. Die Musiker aus dem Ausland wurden dagegen mit Kaviar und Champagner empfangen. „Bei einem Apéro haben wir eine russische Cellistin, die wir schon kannten, einfach mit hineingeschmuggelt. Wir haben ihr dann zwei Säcke mit Lebensmitteln gefüllt und alles heimlich zur Tür herausgebracht.“

Tillmann, die als Kammermusikerin aktiv ist und an der Zürcher Hochschule der Künste unterrichtet, erinnert sich, dass sie vor der Abreise auch Seife, Noten und Mundstücke für Oboen in ihren Koffer packte. „Es gab russische Studenten, die ein Jahr lang dasselbe Mundstück benutzen mussten. Das war für uns unvorstellbar. Wir haben ihnen die mitgebrachten Sachen nach einem Konzert hinter einem Vorhang zugesteckt.“

Claudio Abbados einmaliges Orchester

Die beiden Schweizerinnen spielten damals im Gustav-Mahler-Jugendorchester, das schon vor dem Fall der Berliner Mauer, zunächst vor allem mit Musikern aus Österreich und den Ostblockstaaten, Tourneen quer durch Europa unternahm. Claudio Abbado hatte das Orchester 1987 mit Unterstützern in Wien gegründet. Unter dem Patronat des Europarats wollte er sein Ideal eines kulturell geeinten Mitteleuropas in die Tat umsetzen. Kurz nach der Wende kamen unter anderem auch Schweizer hinzu.

Das Jugendorchester der Europäischen Gemeinschaft, 1976 auf Beschluss des Europaparlaments gegründet und von Abbado als Gründungsdirigent maßgeblich geprägt, nahm hingegen nur Bewerber aus EG-Staaten auf. Für die Russland-Tournee wurde aus jeweils einer Hälfte der beiden Orchester das Jugendorchester eines vereinten Europas gebildet, das nur zu diesem Anlass existierte.

Beim ersten Konzert der Musiker im Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium war auch Staatspräsident Michail Gorbatschow mit seiner Frau Raissa unter den Gästen. Knapp zwei Wochen später, am 25. Dezember, musste er von seinem Amt zurücktreten.

Bereits nach dem gescheiterten Putsch kommunistischer Hardliner im August 1991 hatte ihn der Erzrivale Boris Jelzin, seit kurzem Präsident der russischen Teilrepublik, de facto entmachtet. Mit seinen Kollegen aus der Ukraine und Weißrussland beschloss Jelzin am 8. Dezember – nur wenige Tage vor der Ankunft des europäischen Orchesters – die Auflösung der UdSSR. Ein Entscheid, den die übrigen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion kurz darauf in der Erklärung von Alma Ata bestätigten. Ende 1991 war die Sowjetunion Geschichte.

Die Geige im Taxi, vergessen

Der amerikanische Musikkritiker Norman Lebrecht schreibt in seinem Buch „Why Mahler?“, dass Gustav Mahlers 5. Sinfonie Gorbatschow im Konzert tief beeindruckt habe. Er spüre, so Gorbatschow, dass sich diese Musik auch auf die gegenwärtige Lage in seinem Land beziehen ließe, auf all die leidenschaftlich geführten Kämpfe während des von ihm initiierten Reformprozesses. Ohne Glasnost und Perestroika hätte es auch das gesamteuropäische Orchesterprojekt nicht gegeben. Bei seiner Frau Raissa löste Mahlers Musik indes Verzweiflung aus. „Sie hinterlässt in mir das Gefühl, dass es keinen Ausweg mehr gibt.“

Die russische Geigerin Anna Kipriyanova aus St. Petersburg, die in Deutschland seit langem im Gürzenich-Orchester Köln spielt, saß auf der Bühne mit dem Rücken zur Loge des Präsidentenpaares. „Ich habe während des gesamten Konzerts gespürt, dass sie uns zuhörten.“

Führende politische Vertreter Europas, die die Tournee unterstützten, hatten die Zeichen der Zeit längst erkannt. Zu dem zweiten Konzert in Moskau luden sie Jelzin ein. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, sowie Staats- und Regierungschefs wie der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und Großbritanniens Premierminister John Major priesen die Tournee als Beitrag zur Völkerverständigung.

Am 19. August, dem Tag des Putschs, hatte sich Kipriyanova mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester auf einer Sommertournee durch Europa befunden. Zu Konzerten in London durften sie und andere russische Musiker nicht mehr weiterreisen, sie erhielten keine Visa. „Wir flogen daraufhin nach Moskau zurück, die Stadt war voller Panzer. Wir hörten auch Schüsse. Vor lauter Aufregung vergaß ich meine Geige im Taxi, ich sah sie nie wieder.“

Kipriyanova war damals erst 19 Jahre alt, für Politik interessierte sie sich wenig. „Alles, was ich auf Tourneen im Westen erlebte, dieses Zusammensein mit Jugendlichen aus ganz Europa, war für mich viel spannender als das, was in meinem Land vor sich ging.“

Auf einmal zum Westler geworden

Umgekehrt haben westliche Musiker, die im Dezember nach Russland reisten, die Vorgänge im Osten mit Interesse beobachtet. Der Geiger Régis Bringolf, geboren in Lausanne, hat neben den eindrücklichen Konzerten mit Abbado viele pittoreske Details im Gedächtnis. „In einem prächtigen Nachtzug fuhren wir von Moskau nach St. Petersburg, wo das dritte und letzte Konzert stattfand. Die Heizung lief auf Hochtouren, und eine russische Babuschka servierte uns Tee aus dem Samowar.“ Bringolf, der während des Studiums in Österreich zum Gustav-Mahler-Jugendorchester gestoßen war, spielt heute als Kammermusiker im Alban-Berg-Ensemble Wien.

Wie Bringolf haben die meisten damaligen Orchesterkollegen die Profilaufbahn eingeschlagen. Sie sind Konzertmeister und Stimmführer in großen Orchestern, Kammermusiker und Hochschullehrer.

Der Cellist Georg Schaar, der aus Thüringen stammt, entschied sich jedoch für einen anderen Weg. Er wurde Pfarrer und lebt zurzeit in Überlingen am Bodensee, nicht weit entfernt von der Schweiz. Durch das Gustav-Mahler-Jugendorchester lernte er erst nach dem Mauerfall das westliche Ausland kennen. „In Russland galten wir Ostdeutschen 1991 auf einmal als Westler“, stellte er während der Weihnachtstournee erstaunt fest. Im Jugendorchester eines vereinten Europas, das den gesamten Kontinent repräsentierte, fiel ihm auf, dass es zwischen den Mitgliedern durchaus größere Mentalitätsunterschiede gab.

Mit dieser Einschätzung stand er nicht allein. „Im Mahler-Orchester waren wir als Schweizerinnen in einer Gruppe, die mit der EG nichts zu tun hatte. Und plötzlich trafen wir hier auch auf Engländer und Franzosen, die viel selbstbewusster auftraten als wir“, sagt Barbara Tillmann. „Wir spürten, dass sie sich für die Besseren hielten und dass sie zueinander in stärkerer Konkurrenz standen.“

Beim gemeinsamen Musizieren auf der Bühne fanden sich dann aber alle miteinander vereint. Abbado behielt jeden Einzelnen im Blick und hatte alle Namen im Kopf. Sein Erbe ist weiterhin lebendig. Im Gustav-Mahler-Jugendorchester, das für ein Europa ohne politische Grenzen steht, hat die Schweiz auch weiterhin ihren festen Platz.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 25.12.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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