Romantik: Glaube, Liebe, Hoffnung
Dresden zeigt mit einer Ausstellung, wie viel deutsche und russische Romantik gemein haben
Die russische Seele wird man ebenso wenig ohne einen Blick in die Zeit der Romantik um 1830/40 verstehen können wie viele Besonderheiten der deutschen Politik, besonders der Grünen. Ähnliches gilt für die zeitgenössische Kunst: Sobald der Fotograf Andreas Mühe Angela Merkel versonnen aus dem Zugfenster blicken lässt, auf einem Bild eine die Unendlichkeit von Landschaft oder Meer schauende Rückenfigur auftaucht oder Eisschollen sich krachend auftürmen (eine aktuelle Arbeit zählt mehr als zweihundert direkte Zitate der „Gescheiterten Hoffnung“ durch Zeitgenossen), fällt als Inspirationsquelle mit großer Sicherheit – und völlig zu Recht – der Name Caspar David Friedrich.
Dass Friedrich aufgerufen wird und nicht etwa Alexei Wenezianow, Alexander Iwanow oder Wassili Tropinin, dies zu ändern, haben sich jetzt die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden vorgenommen. In ungekannt enger Kooperation mit der Moskauer Tretjakow-Galerie, wo die erste Station der Schau stattfand, werden im Dresdner Albertinum 140 Bilder deutscher und russischer Romantiker gezeigt, tatsächlich die Crème de la Crème dieser gemalten Welthaltung aus der Romantiker-Hauptstadt Dresden, noch zusätzlich bereichert durch die staatliche Tretjakow-Galerie als unbestrittenes Schatzhaus der russischen Kunst.
Nicht weniger als zehn Friedrichs hat allein die Eremitage in Petersburg ausgeliehen, sodass in einem der Glanzräume der labyrinthischen, von Daniel Libeskind an sein dekonstruiertes Dresdner Militärmuseum angelehnten Ausstellungsarchitektur eine bemerkenswerte Bildertrias präsentiert wird: „Auf dem Segler“, wohl von 1820, „Die Schwestern auf dem Söller am Hafen“ aus demselben Jahr sowie „Mondaufgang über dem Meer“ von 1821 sind nicht nur drei der größten Gemälde Friedrichs; sie stammen auch allesamt aus der Sammlung von Zar Nikolaus I. und werden zum ersten Mal zusammen in Deutschland gezeigt. Neben der individuellen Bildaussage der in den mondbeschienenen Nachthimmel aufragenden gotischen Kathedraltürme und Schiffsmasten wurde die Dreiheit dieser kurz hintereinander entstandenen Bilder schon in der Zarensammlung mit der Zweitbedeutung der christlichen Tugenden „Glaube, Liebe, Hoffnung“ aufgeladen.
Bis man allerdings zu diesem atemnehmenden Triptychon Friedrichs gelangt, muss man im Ausstellungslabyrinth alternativer Wege mehrfach von seinem Freiheitsrecht Gebrauch machen – schließlich haben die Dresdner Sammlungen als unübersehbaren Wink gleich mit dem gesamten Zaun in Richtung aller Staatsrepression den Moskauer Ausstellungstitel „Träume von Freiheit“ nicht grundlos beibehalten. Entstehen solche Träume doch nur in unfreien Systemen, wie sie deutsche und russische Romantiker in der bleiernen Zeit nach den Karlsbader Beschlüssen respektive in Russland nach dem Dekabristenaufstand zu durchleiden hatten.
Romantik: Das Leiden am Leben
Dieses Leiden der Romantiker beider Länder an Leben und Gesellschaft wird in der Schau keinesfalls unkritisch ausgeklammert, erhält dort vielmehr breiten Raum: Der malerisch hochbegabte Leibeigene Grigori Soroka etwa nimmt sich das Leben, weil er über die Schmach des Ausgepeitschtwerdens nicht hinwegkommt.
Und selbst die Vita Friedrichs, der wie die Idealisten auf der absoluten Freiheit des Individuums und damit zugleich auf einer individuellen statt kollektiv romantischen Aussage seiner Bilder beharrt, war voller Rückschläge: Von seinem ersten Hauptwerk an, dem Tetschener Altar, wird ihm von Ramdohr und vielen anderen unentschlüsselbare Privatmythologie und Mystizismus vorgeworfen.
Keineswegs darf seine heutige Bekanntheit auf die damalige Zeit übertragen werden, noch zu Lebzeiten versank er in Bedeutungslosigkeit, die vom Zaren angekauften Friedrichs wurden nach dessen Tod im Inventar bald schon einem „unbekannten Maler“ zugeschrieben. Hätte ihn sein Bewunderer, der wohlhabende russische Staatsrat Wassili Schukowski, mit Bildankäufen und Vermittlungen an den Petersburger Zarenhof nicht massiv unterstützt, wäre Friedrich spätestens nach seiner Arbeitsunfähigkeit durch Schlaganfall im Jahr 1835 schlicht verhungert.
Spät wurde er erst 1906 mit der sogenannten Jahrhundertausstellung der Nationalgalerie wiederentdeckt und als Leitgestirn der Romantik im fortan gültigen Kanon gefeiert. Die postume Würdigung der Person Friedrichs war kein Zufall, sondern im Jahr 1906 am Zenit des Jugendstils zuvorderst Friedrichs und der Romantiker zukunftsweisender Sicht auf die Natur geschuldet. Ein Aufstand der Elemente wie auf seinen Meeres- und Gebirgsbildern oder ein eigenständiges „Erdleben“ wie bei Schelling und Carus erscheint als Blaupause vieler heutiger ökologischer Gedanken.
Der malende Frauenarzt
Überhaupt Carus, neben Friedrich der zweite Hausheilige der Albertinum-Freiheitsträume: 1814 nach Dresden gekommen, übernimmt der malende Frauenarzt bald die Leitung der dortigen Entbindungsanstalten und verfasst das Standardwerk zur Gynäkologie, das sofort ins Russische übersetzt wird und auch im Zarenreich lange Bestand hat. Für Carus aber gibt es keine Trennung zwischen Beruf und gelebter Berufung zum Künstlersein. In seinen konstruiert wirkenden Landschaften und fingerartigen Felsformationen erforscht er mit dem Pinsel stets die Anatomie der Welt, die selbstverständlich von Hegels Weltgeist belebt und durchweht ist.
Unmittelbar anschaulich werden die Freiheitsträume und Verherrlichungen humanoider Naturzustände aber auch an einer traumschönen Wand am Ende des Labyrinths mit knapp einem Dutzend kleinformatiger Wolken- und Himmelsbilder, denen wie bei allen Grundthemen der Schau Zeitgenossen, hier eine Meeresfotografie von Wolfgang Tillmans, gegenübergestellt werden. Keine Kunstströmung richtete häufiger den Blick gen grenzenlosen, entrückten Himmel als die Romantik, sowohl in Deutschland als auch in Russland. Über den Wolken siedelt etwa Friedrich sogar viele seiner Visionen einer neuen Kunst-Religion an.
Wahrscheinlich ist, dass es heutzutage trotz der radikalen Säkularisierung nach 1800 nur noch dank der Kunst der Romantik Konfessionen in Deutschland gibt. Hätten die Romantiker nicht in Gedanken, Worten und Werken derart erfolgreich für Religion geschwärmt und hätten damit nicht auch Könige, Fürsten und Zaren dafür erwärmt, wäre sie in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts wohl sang- und klanglos verschwunden.
Russen wie Deutsche sehnen sich nach Italien
Nicht nur im Hinblick auf einen quasireligiösen Zugang im Malen von Natur – die erstaunlichste Entdeckung der Schau, Alexander Iwanow, malt 35 Jahre an seinem Sieben-Meter-Werk „Christi Erscheinung vor dem Volk“, in dem die nazarenische Landschaft eine tragende Rolle spielt – ähneln sich deutsche und russische Romantiker. Beide neigen durch die Unfreiheit ihrer Länder zum Konstruieren künstlicher Heimaten: Russen wie Deutsche sehnen sich nach Italien, und für die Russen führt der Weg über die Alpen fast durchgängig über Dresden, wo Raffaels Sixtinische Madonna und die Friedrichs von Gogol, Dostojewski und zahllosen Malern besucht werden. Angekommen im gelobten Land der Kunst, realisieren die meisten von ihnen jedoch, dass sie etwas ganz anderes suchten oder nur auf eskapistischer Flucht waren.
Ludwig Richter überfällt im Belpaese derartiges Heimweh, dass er böhmische Landschaften malt. Alexander Iwanow verschmilzt den römischen Apoll vom Belvedere, eine Venus und den Kopf des Laokoon zu einem ikonengleichen russischen Christusgesicht. Doch entstehen aus all diesen unstillbaren Träumen von Freiheit unsterbliche Kunstwerke, die uns heute noch angehen.
Träume von Freiheit – Romantik in Russland und Deutschland. Im Albertinum, Dresden; bis zum 6. Februar 2022. Der Katalog kostet 45 Euro.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4.10.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.