Mit Dostojewski gegen den Westen
Gegen Wokeness und Cancel Culture: Russland feiert Dostojewski als Verteidiger des komplexen Menschen
Fjodor Dostojewski, der in seinem Romanwerk früh die Abgründe im Menschen aufriss, die nach ihm die Philosophie und die Psychoanalyse vermaßen, ist in seinem Heimatland vielen ein Zeitgenosse geblieben. Die Moskauer Schriftstellerin Alissa Ganijewa findet, schon dass Dostojewski seine Figuren mit ihren kontroversen Ansichten aufeinander einschreien statt einander zuhören lässt, mache ihn heutig; auch dass er sich billiger Genres, etwa der Boulevardzeitungssprache, bediene und dabei Großartiges hervorbringe, imponiere ihr.
Doch auch die russisch-orthodoxe Kirche betrachtet den Schriftsteller, der wie das Lukasevangelium einen Mörder zu Gott finden lässt (23:43), als den ihren. Bei der Eröffnung der großen Dostojewski-Ausstellung im Moskauer Museum für Literaturgeschichte am Subowski-Boulevard erklärte der Leiter des Außenamts im Patriarchat, Metropolit Hilarion, Dostojewski mache auch heute viele Russland fernstehende Menschen mit der russischen Kultur und dem orthodoxen Christentum bekannt, dessen Ideale Romanfiguren wie Fürst Myschkin im „Idioten“ und Aljoscha Karamasow verkörperten. Hilarion berichtete von einem britischen Freund, der über Dostojewski promovierte, darüber eine russische Frau fand und sich zum orthodoxen Glauben bekehrte.
Die Schau mit dem Titel „Starke Eindrücke“ (Silnyje wpetschatlenija) veranschaulicht noch bis zum 8. September mit Originalskizzen, Privatikonen, Fotodokumenten Dostojewskis Verhältnis zu Frauen und zu Kindern, zu Religion und Revolution.
Dostojewskis Europhobie
Die stellvertretende Kulturministerin Alla Manilowa hob im Museum hervor, Dostojewski sei in seinem Schreiben und seiner Ausstrahlung ganz Europäer gewesen. Fragen der Moral habe er als solche der Prüfung wahrgenommen, so Manilowa, im Gegensatz zu seinem Antipoden Lew Tolstoi, der Sittlichkeit vor allem mit Normen gleichsetzte und nicht von ungefähr viele Anhänger im Fernen Osten habe, in China und Korea.
Unerwähnt ließ die Staatssekretärin, dass Dostojewski zwar Europas Kunst und Literatur liebte, als öffentlicher Intellektueller aber zunehmend gegen westlichen Fortschritt und Emanzipationsideen polemisierte und sich dabei in eine regelrechte Europhobie hineinsteigerte. Unter Russlands vormals avantgardistischen Gegenwartskünstlern haben freilich einige eine vergleichbare Transformation durchgemacht, allen voran der Theaterregisseur Konstantin Bogomolow, dessen aktualisierende Bühnenproduktion von Dostojewskis „Dämonen“ an Bosheit und Brillanz ihresgleichen sucht.
Der junge Dostojewski sympathisierte mit den Ideen der französischen Frühsozialisten, die unter den Intellektuellen des Petersburger Petraschewski-Kreises diskutiert wurden, wofür er, da Zar Nikolai I. fürchtete, Europas Völkerfrühling könne Russland infizieren, verhaftet, einer Scheinhinrichtung unterzogen und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde. Danach begründete er mit den „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, welche die Zerstörung von Menschen durch sinnlose Tätigkeit schildern, die russische Lagerliteratur.
Mit diesem Gepäck reiste der vierzig Jahre alte Dostojewski, der mittlerweile mit der europäisch emanzipierten, selbst literarisch ambitionierten Apollinaria Suslowa eine konfliktgeladene Liebesbeziehung unterhielt, zum ersten Mal nach Europa – und war bitter enttäuscht. Doch auf dieser Grand Tour, die ihn während zweieinhalb Monaten nach Deutschland, Frankreich, England, Italien und in die Schweiz brachte, fand er zu seinem maliziösen publizistischen Ton, der sich erstmals in seinen „Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke“ aus dieser Reise niederschlug.
Am Moskauer Theater der Nationen hat die Regisseurin Jelena Neweschina dieses weniger bekannte Schlüsselwerk als Dialogstück von subtiler Komik auf die Bühne gebracht. Die Aufführung ist versetzt in einen Museumsraum, als welchen Dostojewski Europa ja schätzte. Der Raum gleicht einem plüschigen alten Eisenbahnwaggon, in dessen Fenster russische Landschaftsvideos vorüberruckeln.
Die Schauspieler Ilja Issajew und Lisa Arsamassowa treten auf wie neugierige Besucher, übersteigen aber sogleich die Absperrungsseile und lümmeln sich in den historischen Sitzmöbeln hin. Sie vergegenwärtigen Dostojewskis Reiseeindrücke als sein Gespräch mit einer Partnerin, die mal eine kokette Passantin ist, mal eine neugierige Hoteldame, die aber auch als Vertraute seine Beobachtungen goutiert und seine verletzte Seele tröstet.
Die Macht des Minderwertigkeitskomplexes
Und Verletzungen zieht dieser hoch gespannte Autor an wie ein schwarzes Loch das Licht. In Köln, das damals gerade seine erste Eisenbahnbrücke über den Rhein eröffnet hatte, bewundert er den Dom, notiert aber spitz, Damen kämen vorzugsweise wegen des Eau de Cologne, und fühlt sich in seinem Patriotismus gekränkt, weil er den Stolz der Kölner auf ihre Brücke auch als Triumphgefühl ihm gegenüber interpretiert, weil es bei ihm in Russland eine solche Brücke nicht gebe.
Die Macht des Minderwertigkeitskomplexes beeindruckt umso mehr, als Dostojewski ehrlich festhält, dass keiner seiner Gesprächspartner etwas in dem Sinn geäußert, sondern dass er sich das nur vorgestellt habe. Und dass auf einer Zugfahrt französische und Schweizer Abteilgenossen eine Unterhaltung mit ihm verweigern, dass eine Pariser Hotelwirtin seine Passdaten inklusive Körpergröße und Augenfarbe dokumentiert, nimmt er – obwohl Lisa Arsamassowas Wirtin ihm schmeichelt, seine Augenfarbe sei ausgesprochen schön – als unzweifelhaften Beweis dafür, dass europäische Nachrichtendienste ihm nachspionierten.
Die Videofenster machen Dostojewskis Kulturschock angesichts des Fortschrittsgefälles nachvollziehbar. Dass der Russe London, die Hauptstadt des Kapitalismus, als apokalyptischen Ameisenhaufen wahrnimmt, wo bis aufs Blut um Zugang zu den Fleischtöpfen gekämpft wird, illustrieren grellbunte Bilder einer heutigen multikulturellen Gesellschaft, die Hamburger verschlingt, aber auch ihren Müll trennt und sich – im Gegensatz zu Russland – durch Masken gegen Corona schützt.
Zu komödiantischer Hochform laufen Issajew und Arsamassowa auf, als sie Dostojewskis Parodie eines mustergültigen französischen Ehepaars nachspielen, das von der höchsten bourgeoisen Tugend, dem Geld, zusammengehalten wird, weshalb sie einander zärtlich Bribri und Ma Biche nennen und Zuneigung vorspielen, wissend, dass keiner den andern liebt und jeder Affären hat. Auch das Pariser Theater huldigt diesem Ideal durch das Drama von dem armen, aber stolzen Künstler Gustave, der die ihm zufallende Million erst zurückweist, dann aber nimmt, um Cécile zu heiraten, bei der er ohne Geld keine Chance hätte, weshalb Bribri und Ma Biche von Gustaves Noblesse zu Tränen gerührt sind.
Rebellion gegen westliche Rationalität
Von Dostojewskis Reisenotizen ist es nur ein Schritt zu seinen „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“, die im Folgejahr erschienen und deren Held die Rebellion gegen die westliche Rationalität zur Zerstörungslust steigert, welche er freilich nur gegen die eigene Person, aber auch gegen eine junge Prostituierte richten kann. Nach Ansicht des Schriftstellers Viktor Jerofejew hat Dostojewski damit dem gesamten zwanzigsten Jahrhundert und insbesondere dem französischen Existenzialismus das Menschenbild vorgegeben, aber auch schon das Psychogramm des lernbegierigen Gelegenheitskriminellen (auf Russisch: gopnik) gezeichnet, wie es Präsident Putin und seine Vertrauten charakterisiert und womit große Teile der russischen Bevölkerung sich identifizieren können.
Dostojewskis Figur polemisiert insbesondere gegen den Glauben westlicher Denker, die Zivilisation würde den Menschen allmählich zähmen. Tatsächlich vervielfältige sie nur die Palette der Empfindungen und ermögliche dem Menschen, auch in Gräueltaten Genuss zu finden, so der Romanheld. Denn das selbstbestimmte eigene Wollen sei ihm wichtiger als jede Einsicht in die Nützlichkeit seines Tuns.
Europa? Ein neutotalitäres „Ethisches Reich“
Als der glamouröse Konstantin Bogomolow im Februar sein antieuropäisches Manifest veröffentlichte, berief er sich ausdrücklich auf Dostojewski. Unter dem Titel „Die Entführung Europas 2.0“ deklariert Bogomolow, als Folge des Nationalsozialismus, des anthropologischen Super-GAUs, habe sich der Westen vom komplexen Menschen, wie ihn Dostojewski auslotete – mit seinen spirituellen Höhenflügen und diabolischen Abgründen –, losgesagt und versuche, ihm das Bestialische auszutreiben, ihn also zu kastrieren. Das geschehe durch die Beschneidung der Freiheit der Emotionen mithilfe der sozialen Medien.
Bogomolow beklagt die Tabuisierung des Hasses, die pauschale Aufwertung aller, die sich als benachteiligt hinstellen, und die Stigmatisierung derjenigen, die das übertrieben finden. Westliche Wokeness und Cancel-Culture kennzeichnen in seinen Augen ein neutotalitäres „Ethisches Reich“ (Bogomolow benutzt das im Russischen nach Zweitem Weltkrieg klingende deutsche Wort), gegen das eine neue rechte Ideologie formuliert werden müsse.
Parallel dazu erarbeitete er an dem von ihm geleiteten Theater an der Malaja Bronnaja das Bühnenstück „Dostojewskis Dämonen“, basierend vor allem auf dem mittleren von dessen fünf großen Romanen, der die politischen Implikationen der linken Ideen aus Europa – denen er in seiner Jugend anhing – in Russland extrapolierte. Darin bringt ein bunter Haufen provinzieller Möchtegernrevolutionäre nur den Mord an ihrem ausstiegswilligen Rechtsabweichler zustande. Als voriges Jahr in der Provinzstadt Pensa eine Gruppe Antifaschisten und Anarchisten, die die Staatsanwaltschaft als „Netzwerk“ (Setj) bezeichnete, verurteilt wurde, nachdem ein Sympathisantenpärchen ermordet worden war – was für das Urteil keine Rolle spielte –, wirkte das wie ein Remake von Dostojewski.
Der olympische Spötter Bogomolow versetzt den Stoff ins Moskauer Luxusmilieu der Gegenwart und inszeniert ein Konversationsstück leicht gelangweilter, gepflegter Menschen mit Mikroports, ohne die Aufgeregtheit des Originals, aber auch von dessen ethischer Dimension völlig frei. Dostojewskis Satire auf die bessere Gesellschaft wird zur launigen Groteske.
Die adlige Mutter des Helden Stawrogin tritt auf als attraktive, infolge einer Gesichtsstraffung lispelnde Rothaarige, die ihr chirurgisch entferntes Biomaterial armen Waisenkindern spendet. Die Popsängerin Maria Schumakowa gibt Stawrogins geistig arme, später ermordete Gattin als dümmliches Starlet mit ukrainischem Akzent. Zugleich prangt auf dem Theatervorhang als Hommage an den zyklischen Wandel der Welt bei Kastenstabilität, vielleicht auch an Russlands eurasischen Sonderweg vielarmig und mit einer Schädelkette geschmückt die indische Göttin Kali, die Herrin über Tod und Erneuerung.
Passenderweise präsentierte Bogomolow eine frühe Version der „Dämonen“ erstmals im Luxury Village Barwicha an der Millionärsmeile Rubljowka, wo eine Loge 6600 Euro kostete. Im stalinistischen Kulturpalast am Jausa-Fluss, wo die Produktion seither läuft, ist die Bühne durch betongraue Wände gegliedert, die an ein Gefängnis oder einen schicken Loft erinnern, und auf welche Livekameras die Figuren im Großformat projizieren.
Den liberalen Schöngeist Werchowenski senior, der im Roman die revolutionären Irrwege inspirierte, ersetzt ein Videoauftritt des sophistischen Kreml-Ideologen Wladislaw Surkow, der das – von Dostojewski auf Papst Pius V. (1566 bis 1572) gemünzte, heute vor allem machtphilosophisch klingende – Credo des Großinquisitors aus den „Brüdern Karamasow“ formuliert, der schwache Mensch könne das Rebellieren nicht lassen, doch die Freiheit sei ihm in Wahrheit lästig, weshalb er sich nur zu gern der Trias von Autorität, Wunder und Geheimnis unterwerfen werde.
Den Mörder und Manipulator Werchowenski junior gibt der gereifte Fernsehstar Igor Mirkurbanow, der seine Theateradepten mit dem Nawalny-Slogan „Russland wird frei sein!“ oder dem vermeintlich drohenden Verrat am „Setj“ antreibt. Dass dieser Antiheld heute auch positiv gesehen wird, bezeugte unlängst der Literaturwissenschaftsprofessor Wladimir Viktorowitsch. Pjotr Werchowenski sei die Lieblingsromangestalt eines seiner Studenten, berichtete Viktorowitsch, weil er, so der junge Mann, durchsetze, was er sich vornehme, und ein „erfolgreicher Manager“ sei – ein Ausdruck, der zum rehabilitierenden Etikett von Stalin geworden ist.
Bogomolow verleiht dem Zynismus der Figur durch Zitate von Iwan Karamasow aus Dostojewskis letztem Roman einen theoretischen Überbau. Der Schöpfergott habe den Menschen als Bestie erschaffen, der die Misshandlung schutzloser Kinder Lust bereite, erklärt Mirkurbanow einer schreckstarren Priesterfigur in fast intimem Ton. Zärtlich mimt er die Sprechweise von Kindern, um dann sadistische Bluttaten an ihnen auszumalen.
Die Hauptfigur des Stawrogin, jenes intellektuellen Verführers, der junge Leute in radikalen Ideen bestärkt, an die er selbst nicht glaubt, wollte der Regisseur erst selbst verkörpern, ließ sie dann aber von der kühlen Blonden Alexandra Rebjonok spielen, was er durch eine Geschlechtsumwandlung motiviert, durch die Stawrogin sich der strafrechtlichen Verfolgung entzog. Im langen schwarzen Ledermantel ähnelt Rebjonok, die in Abgrenzung zu einer Transsexuellen bekennt, sich immer noch als Mann zu fühlen, dem „Matrix“-Helden Neo mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten, aber auch dem typischen Vertreter der allmächtigen Tscheka in der frühen Sowjetunion. Aus artistischem Exhibitionismus schildert sie, masturbierend, wie sie ein kleines Mädchen verführte und in den Selbstmord trieb. Daraufhin fragt Mirkurbanows Werchowenski, Dostojewskis orthodoxe Moral und das Publikum verhöhnend, in den Saal, ob nicht jemand den Sünder Stawrogin bemitleide.
Mit dem Dostojewski-Slogan „Wir werden weinen und alles verstehen“ führt er das Ensemble in die Bühnentiefe und überlässt dem Popsong „Betörend sind die Abende in Russland“ das schmalzig-grelle Schlusswort. Zum Abschied bläst die Windmaschine den Vorhang mit der Göttin Kali in den Theaterhimmel. Als er sich wieder schließt, haben es die Schauspieler gar nicht nötig, noch zum Applaus anzutreten.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 28.7.2021 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.