Was von den Träumen bleibt

Eleonora Hummel erzählt über deutsches Theater in der Sowjetunion und das Sterben von Sprache und Kultur

Eleonora Hummel

Hintergrund der ersten beiden Romane von Eleonora Hummel ist die Situation der Russlanddeutschen. Vor und nach ihrer Ankunft in Deutschland. Sie selbst – Jahrgang 1970 – stammt aus Kasachstan und ihre Familie ist im zweiten Versuch 1982 in Deutschland sesshaft geworden. Aufgewachsen ist sie, die mittlerweile eine deutsche Schriftstellerin ist, mit Russisch als Muttersprache.

Als das Debüt „Die Fische von Berlin“ 2005 erschien, arbeitete sie nach einer Ausbildung als Fremdsprachensekretärin bereits an der Technischen Universität Dresden. Der Roman fiel mir angenehm auf, weil er nicht in die große Feier der wiedergewonnenen deutschen Heimat einstimmt, sondern aus der Sicht der Hauptfigur genau vom Gegenteil erzählt: Ein Kind beginnt sich in Deutschland für seine russische Heimat zu interessieren. In der Literatur ist die Gegenrichtung zum Mainstream immer die spannendere.

Wie aus russischen Deutschen deutsche Russen werden

Der zweite Roman „Die Venus am Fenster“ begleitet Alina, die der Leser bereits im Debüt kennengelernt hatte, bei ihrem Versuch, neue Wurzeln zu schlagen. Wieder geht es um Glücksversprechen und Illusionen in der neuen Heimat, aber auch darum wie aus deutschen Russen ganz langsam russische Deutsche werden.

Der dritte, 2013 erschienene Roman „In guten Händen, in einem schönen Land“ scheint schon mit seinem Titel eine Fortsetzung des Themas der Russlanddeutschen zu versprechen. Sein Handlungsort bleibt aber in Russland und greift einen ganz anderen Stoff auf: zwei Frauen kämpfen um ein Kind. Die richtige Mutter hat in einem Gulag eine Mitgefangene gebeten, sich nach deren Entlassung um ihre Tochter zu kümmern. Sie tut es, lebt sich dabei selbst in die Mutterrolle ein.

Wem gehört das Kind? Schon dieser Roman bedeutete einen Sprung aus dem sicheren Bezirk des Autobiografischen in das freie Erzählen. Dies setzt sie in ihrem im Herbst 2019 erschienenen Roman „Die Wandelbaren“ fort. Sie bleibt dem Schicksal Russlanddeutscher verbunden, verwendet in diesem Fall aber einen offenkundig recherchierten Stoff. In „Die Wandelbaren“ erzählt Eleonora Hummel in der Form eines Romans über deutschsprachiges Theater in Kasachstan.

Eleonora Hummel

Die Wandelbaren

Verlag Müry Salzmann
464 Seiten
Roman
24 Euro
ISBN 978-3-99014-196-0
Zum Verlag

Es ist ein klug gewählter Stoff, der dem Leser viel Aufschluss bietet über die Minderheitenpolitik in der Sowjetunion. Der Kreml berief sich auf Lenin und hielt sich viel darauf zugute, aber wie sah es im weiten Land wirklich aus, vor allem für deutschstämmige Russen?

In den späten siebziger Jahren wollte die Sowjetunion die Hegemonie Moskaus ein wenig kaschieren und tat es in der Kasachischen Republik mit der Gründung eines Theaters für die deutsche Minderheit. Diese kulturelle Tat kam eigentlich zu spät, denn immer weniger Menschen sprachen deutsch. Aber in der Sowjetunion war ein Ukas ein unerschütterbarer Befehl.

Ohne Sprache stirbt auch die Kultur

Im Roman setzt das Erzählen im Jahr 1975 ein. Der sechzehnjährige Arnold Bungert wird für eine Ausbildung zum Schauspieler auf dem Feld bei der Ernte angesprochen und sofort nach Moskau zum Studium mitgenommen. Zu diesem Zeitpunkt sprach Arnold so gut wie kein Deutsch. Oswald, ein Mitstudent, öffnet ihm später die Augen, was es mit der Gründung eines deutschen Theaters auf sich hat.

Eleonora Hummel erfasst in dieser Passage den Widersinn dieser plötzlichen Förderung deutschen Kulturguts, denn es heißt: „Ohne Sprache stirbt auch die Kultur. Die Erinnerung. Der Faden, der über Jahrhunderte gehalten hat, das einende Element, die letzte Verbindung zwischen uns und den Ersten, die einst hierherkamen, wird mit jedem Tag mehr gekappt. Jetzt bezahlen sie uns Germanistikprofessoren, um uns unsere eigene Muttersprache beizubringen, die sie uns zuvor geraubt haben.“

Eleonora Hummel erzählt die Geschichte des deutschen Theaters von seiner Gründung bis zu seinem vorläufigen Ende, zumindest in Kasachstan. Das Theater hat eine ungeahnte Wirkung. Die meisten der Darsteller, die ohne ihr Zutun zum Theater geholt wurden, entdecken an diesem Ort ihre Verbindung zur deutschen Kultur. Viele von ihnen verlassen später als Russlanddeutsche ihre Heimat und übersiedeln nach Deutschland.

Aus der Perspektive von vier Theaterleuten kommen nahezu vierzig Jahre in den Blick. Es geschieht in fünf großen Kapiteln. Zunächst beginnt der Roman mit der Anwerbung der jungen Leute fürs Theater, danach folgen Szenen von der Ausbildung in Moskau und schließlich ihre Ansiedlung in der Metallurgiestadt Temirtau. Schon hier zeigen sich Konflikte, denn als Standort für das Theater war ihnen Karaganda versprochen worden. Es folgt als Zentrum des Romans die Erzählung ihrer Theaterarbeit, mit der sie sich ein großes Stück künstlerische und politische Autonomie erobern, und schließlich im letzten Teil die Übersiedelung der meisten Akteure nach Deutschland.

Geschichte im Blick

Der Romantitel „Die Wandelbaren“ erlaubt viele Assoziationen. Er bezieht sich auf den Beruf des Schauspielers, natürlich, aber eben auch auf Menschen, die sich durch die neue Sprache und das Theater von Russen in Deutsche verwandeln.

Einer ihrer deutschen Gastregisseure, den sie zum Jubiläum einladen, erinnert sich an das Jahr 1989. Er tut es mit nicht eben freundlichem Blick auf die ersten in der Bundesrepublik eintreffenden Russlanddeutschen: „Ich erinnere mich, wie die ersten Aussiedler 1989 in unsere Gemeinde kamen. Irgendwie anders waren sie von Anfang an, und warum sie sich selbst als Deutsche bezeichneten, war so manchem Schwaben unerklärlich geblieben. Die Namen Bachmann, Fischer oder Schieferdecker konnten kein Beweis sein, die hatten die Ankömmlinge gefälschten Papieren oder dem deutschen Schäferhund von Uropa Igor zu verdanken.“

Wenigen Lesern dürfte die Existenz deutschsprachiger Theater in der Sowjetunion bekannt gewesen sein. Der etwas zeitgeschichtlich-dokumentarische Stoff bedeutet eine schwierige und deshalb mutige Wahl. Er besitzt nicht von allein die Eignung zum Roman. Eleonora Hummel gelingt es mit Geschick den Stoff an vielen Stellen zum Leben zu bringen. Beim Jubiläumsfest am Ende des Romans sitzt Violetta in größtmöglichem Abstand zu Arnold, denn ihre im Theater geschlossene Ehe ist schon lange geschieden.

Die Autorin zeigt in „Die Wandelbaren“, dass sie Geschichte im Blick hat, sie aber über individuelle Lebensschicksale erzählt. Im Fortschreiten des Erzählens wächst für den Leser die Spannung, wie der Roman enden wird. Zwei Handvoll Theaterleute schaffen sich eine kleine Insel im totalitären Sowjetregime, aber schaffen sie es auch, ihre Träume in der Freiheit zu bewahren?

Es gibt Passagen im Roman, wo die Absicht durchscheint, den Stoff in die Form eines Romans zu bringen. Manches wirkt ein wenig konstruiert, um das Leben der Russlanddeutschen für uns begreifbarer zu machen. Eine verständliche Absicht, die literarisch ein Stück erzählerische Freiheit kostet. Eine lohnende Entdeckung war der Roman „Die Wandelbaren“ für mich allemal.

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