Katzen, Komik, Kazastan
Dmitrij Kapitelman erzählt von einem Besuch in der Ukraine nach 25 Jahren Deutschland
Wladimir Kaminer hat Verstärkung bekommen. Mit „Russendisko“ fing für Kaminer vor zwanzig Jahren alles an, inzwischen ist er dreißig Bücher weiter. Von nun an könnte es sein, dass er sich die Leser teilen muss.
Der Neue heißt Dmitrij Kapitelman und sein neues Buch trägt den Titel „Eine Formalie in Kiew“. Es ist bereits das zweite des 1986 in Kiew geborenen und seit 1994 in Deutschland lebenden Autors. Gestartet ist er vor fünf Jahren mit dem Roman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“. Damit war er mir noch nicht aufgefallen. Jetzt umso mehr.
Vielleicht ist mein Ton ein wenig von Kapitelmans Ton angesteckt. Sein leichter, unbekümmerter Erzählstil wirkt nach. Ich erzähle kurz, worum es in Kapitelmans Buch geht. Er nennt „Eine Formalie in Kiew“ übrigens nicht Roman, aber dazu später.
Dima will Deutscher werden
Alles beginnt damit, dass ein Erzähler namens Dmitrij Kapitelman, kurz Dima, endlich deutscher Staatsbürger werden will. Nach fünfundzwanzig Jahren Deutschland. Früher hat ihn gejuckt, dass er eine vierfache „Identitätsoberfläche“ besitzt: ukrainisch-russisch-jüdisch-deutsch. Jetzt will er „ein administrativ möglichst komfortables Dasein fristen“. Er will sich damit vieles erleichtern, vor allem die Bürokratie und aus dem Urlaub heimkommen, „ohne dass die Bundespolizisten einen beäugen wie die personifizierte Armutsmigration“.
Ohne Zögern betreibt er die Einbürgerung dennoch nicht, spürt er doch einen „Eispickel im Rücken“: Wer weiß „wie weit die Faschisten in Deutschland noch von der Macht entfernt sind“. Fast dreißig Prozent Stimmen für die AfD in Sachsen erschrecken.
Dima meldet sich schließlich im Technischen Rathaus von Leipzig, Abteilung Einbürgerung, trifft auf die im Prinzip freundliche Frau Kunze, die aber für die Geburtsurkunde eine Apostille braucht. Das ist nun einigermaßen beschwerlich, denn er bekommt sie nur in Kiew: die Apostille als Beglaubigungsform im internationalen Schriftverkehr.
Zurück ins erste Staatsfamilienleben
Also Reise nach Kiew, wo er geboren und bis zur Einschulung gelebt hat. Kiew und die Ukraine lagen hinter ihm, waren das abgehakte „erste Staatsfamilienleben“ – er befindet sich seit einem Vierteljahrhundert im „zweiten Staatsfamilienleben“.
In das Buch ziehen viel Humor, Ironie und Satire ein, weil der Erzähler Kiew und die ukrainischen Verhältnisse bereits als Deutscher sieht, nur noch ohne deutschen Pass. Zwei der vielen Quellen des Humors sind in der Ukraine das „Entdanken“, womit man das Bestechen (weniger aggressiv „schmieren“ genannt) sämtlicher Dienstleister nennt, und die Herkunft des ukrainischen Präsidenten. Immer laufen im TV gerade alte Aufzeichnungen, in denen der Präsident noch Komiker war oder in einer Show – à la Dieter Bohlen für Gesangsdarbietungen – Erzähler von Witzen bewertet hat.
Die Beschaffung der Apostille geht – obschon sie 14 Tage braucht – am Ende reibungsloser über die Bühne als gedacht. Nun wäre der Rückflug nach Deutschland anzutreten, begänne hier nicht ein zweiter Teil der Geschichte. Der ebenfalls in Deutschland lebende Vater braucht ein neues Gebiss und das geht aus Kostengründen nur in Kiew. Vom Zahnarztstuhl wechselt er direkt in die MRT-Röhre, denn seine Aussetzer bei Sprechen und Denken sind bedenklich. Als Ursache wird ein übersehener Schlaganfall festgestellt.
Für den seelischen Beistand ihres Mannes kommt jetzt auch die Mutter aus Deutschland angeflogen. Was am Ende den seit langem vollzogenen Zerfall der Familie umkehrt und zu einer neuen Familien-Harmonie zurückführt. Nach Leipzig fliegt eine nette ukrainisch-russisch-jüdisch-deutsche Familie. Dazu passt die Nachricht von Frau Kunze aus der Ausländerbehörde, dass der Pass abzuholen sei.
Ein zum Deutschen gewordener Russe
Es wäre auch möglich gewesen, den Plot über die unendliche Zahl von Katzen zu erzählen, die im Buch auftreten, in Leipzig wie in Kiew. Allein die Mutter umsorgt dreizehn, was großen Anteil am Familienzerfall hatte, zumindest für Sohn Dima. Aber – und das gehört zum Besonderen des Erzählens – nicht alles löst sich in Humor und Satire auf, denn es lebt eine schwerkranke Schwester in der Familie, die ein Pflegefall ist.
Am Rand kommt das russisch-ukrainische Verhältnis aus deutscher Sicht nicht ganz „korrekt“ in das Erzählen, denn der Erzähler verkündet gleich: „Ukrainisch verstehe ich kaum, wir kamen damals aus dem russischsprachigen Teil.“ Und so teilen sich die Ukrainer im Buch in jene, die russisch sprechen und jene, die die Kommunikation strikt verweigern, wenn es ein Ukrainer nicht kann, was wohl eine korrekte ukrainische Erfahrung ist.
Dmitrij Kapitelmans „Eine Formalie in Kiew“ ist ein Buch, das seinen Witz vor allem daraus schöpft, dass ein inzwischen zum Deutschen gewordener Russe das Land seiner Herkunft betrachtet und umgekehrt, ein Russe seine neue Heimat Deutschland erlebt. Kapitelman sieht es wahrscheinlich ähnlich wie Wladimir Kaminer: „Die wahre Revolution ist die Migration.“
Was die Ukraine betrifft, hat der Erzähler die Frage im Blick: „Wie fühlt es sich an, ein Land innerlich so aufzugeben, dass man es verlassen will?“ Und für Deutschland lautet sie: „Was ist das denn für ein System, in dem ihr in Deutschland lebt, wo man gar nichts mit persönlichen Kontakten und ein wenig Geld regeln kann?!“
Wahrscheinlich funktioniert das ukrainische System in Deutschland nur nicht „mit ein wenig Geld“, würde ich sagen. Der Autor sagt es anders, er macht mehrfach deutlich, dass er sich an seine „lieben Landleute“ wendet: Russen und Ukrainer in Deutschland. Dass er sich auch an mich gewendet hat, bekenne ich mit meinem Lese-Vergnügen.
Lustiglämpchen, Stillstandsstein
Warum sollte man das Buch „Eine Formalie in Kiew“ nun keinen Roman nennen? Das kann man sicher so oder so sehen. Ein wenig Berechtigung besitzt die fehlende Genrebezeichnung, weil man annehmen muss, dass Dima Kapitelman und seine Familie nicht der Fiktion entsprungen sind, sondern der Realität. Es scheint so, als wäre das meiste authentisch abgebildet: in Deutschland und in Kiew.
Eine Formalie in Kiew
Und außerdem hat der Autor eine Neigung zur Kurzgeschichte und nicht zum Roman. Die zwei Dutzend Kapitel des Buches lesen sich wie kleine, zur großen Pointe neigende Geschichten. Weniger die Psychologie der Figuren als ihre Eignung zur Komik bestimmen das Erzählen.
Immer wieder gut dafür sind die Katzen. Sie bilden in Deutschland wie in der Ukraine eine eigene Kolonie: Kazastan. Davor dürfen wir als Zivilisation nicht komplett kapitulieren, sagt der Erzähler. Übrigens hat er außer Kazastan noch viele andere Worte kreiert: das schon erwähnte „entdanken“, Vaters „Lustiglämpchen“, der „Ausländicopter“ von Frau Kunze, der „sowjetische Stillstandsstein“ und „Kapitalklötze“ von heute, der ewig dudelnde „Problemlosigkeitsjazz“ und andere Worterfindungen mehr. Sie loben den neudeutschen Schriftsteller, der nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen ist und das Deutsche wunderbar auffrischt. Treffsicher und Pointensicher, wie es schon seit mehr als zwanzig Jahren Wladimir Kaminer beweist, macht es auf seine Weise Dimitrij Kapitelman auch. Nachzulesen in seinem höchst vergnüglichen Buch „Ein Formalie in Kiew“.