Die Welt in einem Dorf
Yulia Marfutovas Romandebüt zeigt, wie der Fortschritt einen magischen Ort verändert
Am berühmtesten Augusttag der Literatur ist der Himmel fast noch in Ordnung. Über dem Atlantik befindet sich ein barometrisches Minimum und über Russland ein barometrisches Maximum. Die Lufttemperaturen stehen in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur. Isothermen und Isotheren tun ihre Schuldigkeit.
Man weiß, dass das Prachtwetter aus Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ im politisch-metaphorischen Sinn umschlagen wird. Nach dem Jahr 1913 kommt das Jahr 1914. Es kommen Kriegsjahre, Revolutionsjahre. Über die atmosphärischen Verfinsterungen Europas sind viele Romane geschrieben worden, und jetzt gibt es noch einen ganz erstaunlichen.
„Der Himmel vor hundert Jahren“ heißt das Debüt der 1988 in Moskau geborenen und heute in Berlin und Boston lebenden Yulia Marfutova. Es ist ein Roman, in dem viel über das Wetter gesprochen wird. Aber nicht, weil man sonst nichts zu sagen hat, sondern weil es genau darum geht. Um alles. Um nichts Geringeres als das: „die Zukunft des Wetters“. Und das ist eine politische Metapher.
Wer den Himmel lesen kann, kennt die Zukunft
„Blaugrau“ steht der Himmel über einer russischen Flusslandschaft der Revolutionsjahre. Im namenlosen Dorf ist die Welt nicht größer als die Begriffe, die man sich von ihr macht. Aus der Fremde kommen die Dinge, die der Fluss anschwemmt. In die Fremde sind die jungen Männer verschwunden. Sie werden nicht wiederkommen, um davon zu erzählen. Das wird der Krieg zu verhindern wissen.
Wo die Kühe in den Ställen stehen und das Korn auf den Feldern, dort bedeutet lesen: den Himmel zu lesen. Wer ihn versteht, der kennt die Zukunft der nächsten Tage. Deshalb sind die beiden Auguren des Dorfes Meteorologen ganz auf ihre Art.
Pjotr beobachtet die Erscheinungen der Natur und vertraut auf die Unmittelbarkeit ihrer Zeichen. Der zunehmend ortsberühmte Ilja beobachtet das Sinken und Steigen des Quecksilbers in einem Röhrchen. Eine unerhörte Sache. Selten in der Literatur war der graduelle Übergang von Magie in Moderne so genau messbar und so bildhaft wie hier.
Yulia Marfutovas mehr als nur überzeugendes Debüt treibt sein eigenes Spiel mit den Dingen und mit der Sprache. Der Roman reduziert die Welt auf ein Dorf, um alles, was in diesem Dorf vorhanden ist, wieder auf die monströse Größe der Welt auseinanderzufalten. Das Dorf ist Parabel, und doch ist es auch ein mitten in der russischen Landschaft gelegener Ort, aus dem vielleicht die Großeltern kommen, denen Marfutova ihren Roman gewidmet hat.
Der Röhrchenbesitzer Ilja lebt mit seiner Frau Inna und der Enkelin Annuschka in einem Haus, als eines Tages ein junger Mann namens Wadik auftaucht. Er kommt in zerschlissener Offiziersuniform und als Vorbote einer Welt, die jenseits eines Flusses liegt, den hier noch kaum jemand überquert hat. Wadik quartiert sich im Haus ein. Er schnitzt schweigend kleine Figuren und hat Ideen einer besseren Zukunft.
In Yulia Marfutovas Dorfgemeinschaft herrscht eine fein ziselierte Menschlichkeit. Man ist einander zugetan und nur durch Zeichensysteme getrennt. Jeder spricht seine Sprache. Die Abergläubischen, die Aufklärer und die Verrückten. Die Verschwiegenen und die Redseligen. Ein empathischer Kunstgriff des Romans ist es, die Zeichensysteme nicht gegeneinander auszuspielen, sondern gleichermaßen gelten zu lassen. Jeder hat auf seine Weise recht.
Die Realität räumt auf
Aber für das Dorf kommen noch Zeiten, in denen sich die Dinge ändern. „Iljanismus“ und „Pjotranismus“, Fortschrittsgläubigkeit und Naturgläubigkeit, werden zu unversöhnlichen Antagonisten. Wenn es so etwas wie „Ideen“ gibt, dann war das auf dem platten Land des Romans seit Menschengedenken nicht einmal bekannt. Auf einmal aber sind sie da. „Dass die Zukunft der Dorfschaft auf Röhrchenideen gegründet sein werde. Auf allerhand Besserungen“, sagt Wadik.
Besserungen wird es in diesem Land des hoffnungslosen Träumens aber nicht geben. Die russische Revolution schickt zwei Abgesandte, die der Roman kurzerhand „Realität“ nennt. Ein schöner Witz, denn jetzt ist sie endgültig da: Die Realität räumt mit den magischen Energien des Dorfes auf. Mit seinen Wundergläubigen genauso wie mit seinen Aufklärern.
In „Der Himmel vor hundert Jahren“ geht es um Herrschaftswissen und Definitionsmacht. Um die Revolution der Träume und um ihre albtraumhafte Erfüllung. Dem Zaren haben die Bauern mit dem Ende der Leibeigenschaft ihre Freiheit verdankt. Der Sozialismus der Revolutionäre von 1918 schafft sie wieder ab. Die Ikonen müssen aus den Stuben der Bauernhäuser verschwinden, so wie auch mancher aus dem Dorf plötzlich fehlt. Das ist eine Episode aus der Geschichte Russlands, aber bei Marfutova auch eine allegorische Erzählung über die Macht des diktatorischen Denkens.
Wenn „Der Himmel vor hundert Jahren“ auch voller intelligenter Chiffren ist, ergibt das dennoch keine klappernde Mechanik. Yulia Marfutova schafft eine still leuchtende Landschaft, die mit ihrem Dorf, dem Fluss und den Wäldern in die Sätze hineingemalt ist. Über den leidgeprüften Menschen ein weiter Himmel, dem bis in alle Zeiten die Zukunft des Wetters egal sein wird.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 10.5.2021 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.
Der Himmel vor hundert Jahren