Die USA zwischen EU und Russland
Michael Lüders fragt, weshalb „wir“ uns der „scheinheiligen Supermacht“ USA fügen
Was macht Macht mit Menschen? Sie verändert sie. Barack Obama war ja nicht als Falke bekannt, weshalb so viele Menschen in Europa, erst recht in Deutschland, 2008 so große Hoffnungen auf den jungen Demokraten setzten.
In seiner Autobiografie schreibt Obama, dass er sich schnell an den militärischen Gruß gewöhnt hatte, wenn er an Bord des Marine-One-Helikopters oder der Air Force One stieg oder „mit unseren Truppen zu tun hatte“. Und genauso wohl fühlte er sich bald, „in meiner Rolle als Oberbefehlshaber, und ich füllte sie auch immer besser aus. Das morgendliche Präsidentenbriefing fiel knapper aus, da mein Team und ich zunehmend vertrauter mit einem wiederkehrenden Ensemble außenpolitischer Figuren, Szenarien, Konflikte und Bedrohungen wurden. Früher undurchschaubar wirkende Verbindungen lagen nun für mich auf der Hand.“
Some things never change, heißt das wohl, man kann von Experten mit jahrelanger Erfahrung lernen. Und das gilt gerade für die Außenpolitik. Diese Disziplin ist das Feld, das am schwersten umzupflügen ist. Denn die wichtigste Währung für Außenpolitik ist Kontinuität. Es geht um internationale Verlässlichkeit.
Deshalb waren all jene naiv, die erwarteten, dass dieser Präsident des mächtigsten und waffenstärksten Imperiums dessen Außenpolitik grundlegend ändern würde. Und sie waren überrascht, als dieser Hoffnungsträger Zehntausende weiterer Soldaten in Regionen schickte, in denen die Menschen keinesfalls besser lebten, seit die selbsternannte Schutzmacht sich bei ihnen breitmachte.
Aber was heißt schon Schutz?
Als die USA sich dank ihrer an der Westfront entscheidenden Rolle im Kampf gegen Nazi-Deutschland endgültig als Global player etabliert hatten und Europa machtpolitisch neu vermessen war, entstand 1949 die North Atlantic Treaty Organization (NATO). Laut ihrem ersten Generalsekretär hatte das Bündnis vor allem einen Zweck: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down”.
Mit der nächsten Umwälzung vierzig Jahre später waren die Russen völlig down, pleite auch durch ruinöse Verteidigungsausgaben. Das Ringen der Blöcke schien beendet, gar die Geschichte. „Die einzige Weltmacht“ entwickelte, damit das so bleibe im eurasischen Raum, „Amerikas Strategie der Vorherrschaft“. So nannte Zbigniew Brzezinski, einst nationales Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, später sein Buch über die Geostrategie der USA in der neuen Welt ohne Sowjetunion.
Amerikanische Kontinuität in der Russlandpolitik
Was Brzezinky damals schrieb, so fasst Michael Lüders in seinem Buch „Die scheinheilige Supermacht“ zusammen, sei eine Haltung, „wie sie unter amerikanischen Sicherheitsexperten weit verbreitet war und ist“. Laut Brzezinsky dürfe eines nicht passieren: ein Schulterschluss der EU mit Russland.
Im Jahr 2014, als einige europäische Politiker in der Ukrainefrage noch bereit waren, auch russische Interessen zu berücksichtigen, machte Victoria Nuland unmissverständlich deutlich, wer in Osteuropa die Entscheidungen traf. Unvergessen ihr historisches Wort: „Fuck the EU!“
Auch Joe Biden, der ein halbes Jahrhundert in US-Außenpolitik involviert und als diesbezüglicher Experte mit Erfahrung (neben den bewährten Fachleuten in den Stäben) verlässlicher Berater Obamas war, wird die alte US-Politik gegenüber Moskau fortsetzen. Für Dmitri Trenin, den klugen Analysten des Carnegie Moscow Center, ist mehr Spannung zwischen USA und Russland jedenfalls „eine sichere Wette“. Russland bleibe für die USA „die größte Bedrohung“.
Um die Kontinuität amerikanischer Außenpolitik zu verdeutlichen, berichtet Lüders noch einmal ausführlich, wo und wie die USA ihren Anspruch auf Weltführerschaft „verteidigten“: von Iran 1953 (Mossadegh) bis Irak 2003 (Uno, Hussein), von Asien bis Südamerika in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, und natürlich überall, wo es Gas und Öl gibt. Zur Not galt und gilt „America first“ auch gegen Partner.
Double standards, „entschlossene Wertorientierung“
Klar, ein Imperium macht imperialistische Politik. Aber darf eine Weltmacht, die seit Jahrzehnten verspricht, die Segnungen von Demokratie und Menschenrechten verbreiten zu wollen, ihre eigenen Werte verleugnen, wenn es um eigene Interessen geht? Müssen die USA, muss der Westen nicht Vorbild sein?
Wie kann es sein, dass vergleichbare Verstöße gegen das Völkerrecht unvergleichliche Urteile erfahren, der eine an den Pranger gestellt, nach dem anderen ein Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Völkerrecht benannt wird. Wie kann es sein, dass gegen von Mördern geführte Staaten mal Sanktionen verhängt werden, mal nicht, mit Staaten, die Menschenrechte verletzten und westliche Werte verachten, Handel getrieben mal Handel verboten wird. Weshalb wird gegen die einen potenziellen Kriegsverbrecher der Strafgerichtshof bemüht, gegen andere nicht?
Und schließlich: Wie kann, wer die Pressefreiheit als hohes Gut einschätzt, ausländische Pressevertreter im eigenen Land, russische und chinesische, zu „ausländischen Interessensvertretern“ herabwürdigen, die wegen dieses Etikettenschwindels bei Bedarf ohne Skandal ausgewiesen werden können?
Mit Lüders‘ Worten: „Wie ist es zu erklären, dass die Zerstörung zahlreicher arabischer, islamischer, lateinamerikanischer, fernöstlicher und anderer Staaten durch die Machtpolitik Washingtons wenig bis gar keine Empörung auslöst? Wie ist angesichts des Elends von Millionen Menschen, die den Preis für diese Politik zu bezahlen haben, die Fiktion einer westlichen Werteorientierung aufrechtzuerhalten – jenseits von Selbsttäuschung?“
Lüders hat für derartige Double standards ein sarkastisches, aber treffendes Wort erfunden: „entschlossene Wertorientierung“. Aus imperialer Sicht, so Lüders‘ Antwort, „sind militärische Interventionen, Regimewechsel oder Subversion mit Hilfe der Geheimdienste legitime Mittel zum Zweck, nämlich der Sicherung oder Ausdehnung des eigenen Machtbereichs“.
Die scheinheilige Supermacht
Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen
Und so kann ein Staat wie Iran mal Freund, mal Feind der USA sein, dem der vorige Präsident sogar „Vernichtung“ angedroht hat. So können Islamisten mal hofiert, gar finanziert und ausgebildet, mal bekämpft werden. So können die Kurden, die den Islamisten auf syrischem Boden Auge in Auge gegenübertraten, von ihren Verbündeten in den Flugzeugen nach dem Sieg fallen gelassen werden. Und so wäre vieles denkbar, auch das: „Wäre das syrische Regime pro-westlich“, so Lüders, „könnte Assad massakrieren, wen und so viele er wollte – nicht anders als etwa der saudische Kronprinz im Jemen.“
Das höhere Ziel heißt: Bekämpfung des Bösen. Und wer oder was ist das Böse? „Wer sich gegen westliches Dominanzstreben zur Wehr setzt“, so Lüders, „wird zum Gegner oder Feind.“
Heute heißen die Feindbilder: Iran und China und immer noch Russland, Staaten, die „nicht bereit sind, sich amerikanischer Dominanz zu unterwerfen“. Es gebe aber einen wesentlichen Unterschied zwischen dem „Neo-Imperialismus der USA und dem imperialen Gebaren Chinas und Russlands“, so Lüders. Letztere verfügten nicht über die Mittel, „ihre hegemonialen Ansprüche über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus dauerhaft militärisch oder politisch durchzusetzen“.
Man sieht: Michael Lüders gibt sich alle Mühe, dieser „scheinheiligen Supermacht“ die Gloriole vom Kopf zu kippen.
USA und EU, Koch und Kellner
Und warum machten die Westeuropäer das alles mit? Weil die USA auch ihre Alliierten immer schon erfolgreich einhegten. Der Deal lautete vor allem in der Golfregion: Sicherung und Beteiligung an der Beute (Rohstoffe) gegen Anpassung an die US-Sicherheits- und Außenpolitik. Sogar China ist von Öl und Gas aus der Region abhängig, welche die USA dominieren.
Aber welchen Nutzen hat Deutschland heute aus der Konfrontation mit Iran, Russland, China? Als Antwort nennt Lüders das Projekt „Regimewechsel in Syrien“, das Washington, London, Paris und andere verfolgten. Berlin sei bestenfalls Mitläufer gewesen, aber Aufnahmeland für die meisten Flüchtlinge.
Die USA sind Koch, die anderen die Kellner – das Muster gilt auch andernorts. Die gegen Iran befohlenen Boykottmaßnahmen (Lüders: „völkerrechtswidrige Strangulierung der iranischen Volkswirtschaft“) treffen in erster Linie europäische Firmen, die Lücke füllen chinesische – und beziehen russische „alles andere als unklug“ ein, so Lüders.
Auch die Russlandsanktionen treffen europäische Unternehmen, vor allem deutsche. Das gilt nicht zuletzt bei den Sanktionsandrohungen für all jene, die an Nord Stream 2 mitbauten. Die Kosten eines Baustopps in Form von 12 Milliarden Euro Abschreibungen sowie erheblichen Schadensersatzforderungen (plus Vertrauensverlust) trügen die Steuerzahler, das teure und umweltschädlich gewonnenen Fracking/LNG-Gases bezahlen die Gasverbraucher.
Europa, wohin?
Ein beträchtlicher Teil des Buchs beschäftigt sich mit dem inzwischen zerrütteten Verhältnis zu Russland und der Forderung: Putin muss weg! Lüders stellt die einfache Frage, was nach einem erzwungenen Abgang Putins geschehen würde oder könnte. Ein neues, demokratisches, von der Zivilgesellschaft getragenes Russland? Lüders vermutet eher „Staatszerfall, Chaos oder der Machtübernahme von Rechtsextremisten“. Seine rhetorische Frage: „Wäre das eine für Deutschland, Europa, den Westen, die Menschen in Russland bessere Wahl?“
Aus all den genannten Gründen müsse Europa „aus dem Schatten der USA heraustreten“, so Lüders. Europa dürfe sich nicht mit der Rolle von Washingtons Pudel zufriedengeben wie die Briten, sondern müsse eine eigenständigere Politik anstreben. Die Welt bloß in gut und böse zu unterteilen, sei keine Außenpolitik. „Unsere Interessen sind nicht notwendigerweise die der USA, und umgekehrt.“
Ähnliche Thesen vertreten auch Gregor Schöllgen und Gerhard Schröder in ihrem Buch „Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“. Auch für Lüders gehört dazu „eigenständige Verteidigungsfähigkeit“ und zwingend eine „Neupositionierung Brüssels zwischen den USA hier und China dort“ sowie „Alternativen zum US-dominierten Finanz- und Bankensystem“. Außerdem sei der Fehler zu korrigieren, „die amerikanische Konfrontationspolitik gegenüber Russland“ weiter mitzutragen. „Gefragt ist eine Politik des Ausgleichs, nicht der Konfrontation und eines weiteren Rüstungswettlaufes.“ Außenpolitik, so Lüders Botschaft, kann sehr wohl geändert werden.