Die Bürde des eigenen Glücks
Was mit russischen Aussiedlern in Deutschland geschieht, zeigt Lena Goreliks herzzerreißender Roman
Nie wäre der Vater auf die Idee gekommen, die Heimat zu verlassen, schon gar nicht ins Ausland, schon gar nicht nach Deutschland. Die Entscheidung fiel in der Tram, Anfang der neunziger Jahre in St. Petersburg, auf dem Heimweg von der Datscha: „Geh doch nach Hause, du Dreckjude!“, sagt einer 45 Jahre nach der Shoa – in St. Petersburg. „Geh doch nach Israel, da gehörst du hin!“
Ausgerechnet ins Land der Mörder, das steht so nicht in Lena Goreliks Roman „Wer wir sind“, aber der Gedanke drängt sich auf. „Haben wir alles für dich gemacht“, werden die Eltern der Tochter später sagen, „für deine bessere Zukunft, für dein Glück.“ Eine Bürde, „diese Bürde, glücklich sein zu müssen für all die Menschen, die man liebt“. Man hat etwas verloren, da, wo man herkommt, und eine Last erworben: Pflicht, Bringschuld.
Das erste, was das Kind in Deutschland bekommt, ist eine Banane. Gleich am Bahnhof. Und was sie zuerst lernt: dass die Deutschen Obst und Gemüse aus den Auslagen nehmen, den Supermarkt betreten, um drin bezahlen; sie „versuchen zu verstehen, warum die Deutschen das tun, das Obst hineintragen und bezahlen, wo sie es doch einfach mitnehmen könnten“. So viel ist fremd im fremden Land. Dass die Leute mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Dass es für alles eigene Schüsseln gibt. „Wir hören gar nicht mehr mit dem Wundern auf.“
Es fehlt so viel: die kleinen, weißen Äpfel, georgische Wassermelonen, das russische Roggenbrot. Kurz: „unser Essen“, das in die Kindheit zurückblickend „nur schmeckt, wenn die Erinnerung in den Teig gerührt ist“. Welch ein Satz!
Aber es gibt auch Gutes in diesem Land: Die Zentralheizung kann individuell gesteuert werden, sie bewundern den Drehknopf an der Heizung. „Die Herrlichkeit der Macht, ich will es wärmer, ich“. Kippbare Fenster! Gehören auch zu „den Freuden des Westens“. Und weißen Badeschaum. Und welche Freiheit! In Deutschland „kriegt“ man nicht etwas, weil es mal da ist, sondern man sucht sich etwas aus bei C&A.
Streberin, ein Schimpfwort
Und doch: In der deutschen Schule wird das Mädchen Streberin genannt. Dass das ein Schimpfwort ist, weiß nur das Mädchen. Was denn schlimm daran sei, fragen die Eltern, dass jemand lernen will? „Das ist doch das Wichtigste im Leben, zu lernen.“
Und das Mädchen lernt, auch die Sprache – und deren Mängel: Die deutsche Sprache hat auch zu wenig Wörter für Schnee und keines, das die Seele so schön wärmt wie das russische Wörtchen Babuschka. In Russland liebt man Veilchen, in Deutschland mag man sie höchstens. „Dieses Verb ist für uns irgendwie zu klein oder zu kleinlich.“
Die Tochter lernt schnell, aber die Eltern bleiben zurück. Sprachlich, beim Verstehen, der Behördenpost, und werden dafür häufig verachtet: Lern erst mal richtig Deutsch!“ Arbeit, Demütigungen, Müdigkeit. In ihrer Einsamkeit, im Verlorensein „werden unsere Eltern zu Kindern“.
Die Neuankömmlinge schämen sich oft, vor allem die Eltern, wenn sie sich mal wieder nicht normgerecht verhalten im Din-A4-Land. Die Scham lasse sich gut merken, schreibt Gorelik. „Sie hat diesen Nachgeschmack im Mund, als habe man sich soeben übergeben.“
Im stacheldrahtbewehrten Asylheim – „Das Zuhause, in dem wir verwahrt wurden“ – ist der Vater entweder still (weil die Frauen „sprechen, streiten, nörgeln, bestimmen“) oder müde, und am Ende des Buchs scheint er zu fragen, ob es richtig war, die Heimat zu verlassen. Richtig oder falsch für sie, die Eltern, die nie Fuß fassen im neuen Land, die ihren Beruf nicht ausüben dürfen, weil – wie kleinmütig und kleingeistig – die Diplome nicht anerkannt werden. Sie arbeiten überqualifiziert, der Vater stellt wie immer Pflichterfüllung über Erholung, die Ingenieurin wird Buchhalterin.
Die Pflicht zur Leistung
Aber für die Tochter war es doch richtig, das ist ihr Antrieb und der Schutz vor der Resignation. Aber es verpflichtet die Tochter zu Leistung. Sie muss es schaffen. Und sie schafft es. Gespalten zwischen Stolz und Zweifel: „Ich renne ihnen voraus, aber blicke zu selten zurück, um zu sehen, ob sie nachkommen.“
Die Entfremdung ist unvermeidlich, und sie lässt sich „an den deutschen Worten abmessen, die sich im russischen Erzählschwall selbstbewusst breitmachen“. Die Mutter sagt: „Du hast vergessen, was Familie ist.“
Aber sie muss doch, sich anpassen, mehr leisten als die Mitschüler, perfekt sein. Denn: „Sie sind für mich hergekommen, für uns Kinder, und das haben sie nun davon. Dass die Kinder alles dafür tun, um nicht mehr die ihren zu sein.“ Das tut sogar beim Lesen weh.
Die große Entscheidung zu hinterfragen verbietet sich, kein Zurückblicken. „Ich müsste hier ein glückliches Leben führen, was nicht dasselbe ist wie glücklich sein“, schreibt Gorelik. Und: „Das ist die Geschichte des Mädchens, das manchmal fehl am Platz ist, immer noch.“
Goreliks Buch über die Abgründe, die sich vor und hinter Zuwanderung verbergen, ist unerbittlich wahrhaftig, ohne falsche Rücksicht, erbarmungslos ehrlich, schonungslos und selbstkritisch. Ein herzzerreißender Roman.
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