Beinah Glückseligkeit
Polina Barskova über die Kindheit in einem Land, das in neuen Atlanten nicht mehr existiert
Polina Barskova ist 1976 in Leningrad geboren, studierte Klassische Philologie und Slawistik, lebt und arbeitet seit 1998 in den USA. Sie schreibt Gedichte, seit sie acht war, und ist ein seltenes Beispiel eines Wunderkinds, das sich, nachdem es erwachsen wurde, in der Literaturszene nicht verirrt hat. Inzwischen hat sie mehrere Gedichtbände veröffentlicht und dafür einige Literaturreise bekommen. Ihr erster Prosaband „Lebende Bilder“ wurde 2015 mit dem Andrej-Belyj-Preis ausgezeichnet
Das Buch „Lebende Bilder“ ist kein Roman. Auf jeden Fall nicht im klassischen Sinne. Es sind kurze Texte, welche auf den ersten Blick miteinander nicht verwandt und die einander oft sehr unähnlich sind. Die Texte sind, um genauer zu sein, auch keine Erzählungen. Jedenfalls nicht alle. Es sind tatsächlich immer noch Gedichte. Gedichte, die so tun, als ob sie Prosa wären.
Umso mehr macht es Freude, diese Zeilen zu studieren und die Doppeldeutigkeiten darin zu entziffern, beim Lesen eines Texts nach den versteckten Implikationen zu suchen und diese plötzlich im nächsten Text zu finden. Diese voneinander losgelösten Geschichten wie Bilder in einer Galerie anzuschauen und nach einer gewissen Zeit die Gemeinsamkeit zu erblicken, um das Buch der „lebenden Bilder“ auf einmal als Ganzes zu sehen: als ein kunstvoll geschriebenes Buch über Poesie, über Erinnerungen an eine sowjetische Kindheit, über das Land, das auf den Landkarten nicht mehr existiert, über Amerika auf der anderen Seite der Erdkugel und über die Menschen, die ganz unterschiedlich und doch überall so gleich sind.
Was das eigentlich für ein Dreckssujet ist, das mich dazu bringt, auf diesem flimmernden Asphalt schon wieder eine moralische Frage mit mir selbst zu erörtern – ob es richtig ist, noch einmal in die Höhle des krepierenden Drachen zu gehen, der einst mein Herz gefressen zermalmt hat (genau so: schmatz-schmatz), und wahrscheinlich besteht genau in dieser Frage das Sujet und das Ereignis, ohne die weder ein anständiges verfehltes Leben noch eine anständige Prosa auskommt.
Manchmal verwirrte und verwirrende (wie das Leben eben so ist) Texte von Barskova tragen in sich viele Wortspiele, die oft nur schwer oder gar unmöglich in eine andere Sprache zu übersetzen sind. Für einige hat die Übersetzerin, Olga Radetzkaja, passende Äquivalente im Deutschen gefunden. Viele sind leider im Original in den kyrillischen Buchstabengefügen geblieben. Wie die Reihe von semantischen Assoziationen, welche die Protagonistin (und die Autorin) von Gorki zu einem Kuss auf einer russischen Hochzeit bringt. Seltsamerweise kann aber genau dies das Lesen an manchen Stellen geheimnisvoller und spannender machen.
Ein Geheimnis ist etwas, das man unsichtbar in sich trägt, und gleichzeitig bringt es einen hervor und macht einen zum Monster. Das Geheimnis ist radioaktiv.
Den zehn Geschichten (Gedichten?) im Buch folgt das Theaterstück „Lebende Bilder“, welches dem ganzen Band seinen Namen verlieh. Zwei Mitarbeiter der Eremitage leben und lieben einander in den Hallen des Museums im Winter 1941 – 1942 während der Leningrader Blockade. Das Thema dieser Blockade erforscht Barskova seit einigen Jahren und schreibt in ihren Texten auf, unter anderem auch, damit das Leben und der Tod der Menschen von damals nicht umsonst ist.
Damit keiner sagen kann, damals war es so und so, je nachdem, wie es ihnen in den Kram passt – später, wenn wir nicht mehr da sind.
Und trotzdem ist es ein Buch nicht vom Tod, sondern vom Leben. Von jenen, die das Leben vor Jahren gefeiert haben, und von denen, die es jetzt noch tun. Und all die mannigfaltigen Wortspielereien sind eines der wenigen Mittel, die es möglich machen, dieses fremde Leben vor dem Leser wie lebende Bilder in einem wundersamen Museum auszubreiten.
In diesen Überbleibseln, den wenigen Schnipseln, auf die ich eben noch herankomme, liegt keine Bangigkeit, kein Ekel, kein Sinn, kein Bedauern. Beinah Glückseligkeit.
Lebende Bilder