Kriegsbeute

Beutebücher: Rückkehr nach Woronesch

Ein Akt der Bürgerdiplomatie: Der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers gibt gestohlene Bücher zurück

Das älteste der Beutebücher ist eine russische Grammatik, vermutlich aus dem 17. Jahrhundert.

Wenn in den russisch-deutschen Beziehungen sich einmal beide Seiten einig sind, können die Formalitäten erstaunlich rasch über die Bühne gehen. Das war jetzt so im Fall der Rückgabe von 91 wertvollen Büchern aus dem Bestand der Universitätsbibliothek von Woronesch, die ein Wehrmachtsoffizier im Zweiten Weltkrieg dort erbeutet hatte, durch dessen Sohn, den 86 Jahre alten Hans-Erich Frey aus dem hessischen Neu-Isenburg. In einer bewegenden Zeremonie im Berliner Russischen Haus der Kultur und Wissenschaft händigte Frey die Bücher, von denen einige noch Brandspuren tragen, dem Bevollmächtigten der Bibliothek aus, dem Deutschen Klaus-Dieter Heinze, der in Woronesch studiert hat und der Assoziation der Absolventen der Hochschule vorsitzt.

Die Aktion einer „Bürgerdiplomatie“ umging bewusst die hohe Politik, wo in Fragen der Rückgabe kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter die Fronten verhärtet sind, weil Deutschland auf der Rückgabe aller konfiszierten Kulturgüter besteht, während Russland seine „Selbstentschädigung“ für erlittene Verluste als rechtmäßig ansieht. Der russische Botschafter trat nur als bevollmächtigter Gewährsmann auf. So wurde aber auch die durchaus reale Gefahr umgangen, dass Moskau Raritäten aus dem Konvolut einbehalten und der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zueignen könnte, wie der Rektor der Universität von Woronesch, Dmitri Jendowitzki, betont. Die Bücher werden nun über Moskau an den Ort ihrer Herkunft verfrachtet, dort gesichtet, gegebenenfalls restauriert und im Oktober im Rahmen des russisch-europäischen Projekts „Green Campus“ präsentiert und in die Sammlung eingegliedert.

Der Osteuropahistoriker Wolfgang Eichwede, der schon zahlreiche Rückgaben von durch Deutsche privat geraubten Büchern, Bildern und Ikonen nach Russland organisiert und die Bücher über Monate in seiner Wohnung zwischengelagert hat, sprach von einem „schönen, großen Augenblick“. Die Sammlung umfasst 58 russische, 30 französische, zwei russisch-französische Werke; außerdem gehört eine englische Ausgabe von Byron zum Konvolut. Zu diesem gehören frühe Gesamtausgaben von Nikolai Karamsin und Alexander Puschkin.

Das älteste Stück ist die etwas ramponierte erste Grammatik der säkularen russischen Sprache, ein Unikat, das möglicherweise aus dem 17. Jahrhundert datiert. Das schönste Buch ist ein früher Katalog der Kunstsammlungen der Petersburger Eremitage, der 1805 unter Zar Alexander I. publiziert wurde. In französischer Sprache dokumentiert das Buch das vorherrschende Idiom des Adels, erst nach dem Krieg gegen Napoleon wurde das Russische salonfähig. Die Gemälde von Leonardo, Veronese, Correggio, Rubens, Rembrandt sind reproduziert als akademische Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Wie viele andere Bücher trägt das Buch das Exlibris einer Adelsfamilie aus der Gegend von Woronesch, deren Kulturschätze nach der Oktoberrevolution verstaatlicht wurden.

Bescheidene Geste der Wiedergutmachung

Der Ingenieur Erich Frey, dessen Sohn die Bücher nun zurückgab, sprach als gebürtiger Baltendeutscher Russisch und war 1942 im deutsch besetzten Woronesch stationiert, um dort die Wasser- und Stromversorgung wiederherzustellen. Der Vater habe einen guten Kontakt zu Russen gehabt und etwa nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt die Metalllieferungen aus der Sowjetunion entgegengenommen, sagt Hans-Erich Frey. Dass damals schon deutsche Kampfflieger widerrechtlich in den sowjetischen Luftraum eindrangen, sei ihm „sehr peinlich“ gewesen, habe Frey senior erzählt.

Die Bücher schickte er aus Woronesch per Feldpost nach Neu-Isenburg und erklärte später, er habe sie aus zerstörten Häusern geborgen. Der 1935 geborene Frey junior bekennt, ihm sei irgendwann klar geworden, dass das nicht stimmen konnte. Als er davon spricht, dass es sich um eine völkerrechtswidrige Entnahme gehandelt habe, dass Deutschland einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion führte, dass er sich für die Verbrechen seiner Landsleute schäme und vor ihren Millionen Opfern verneige, kommen Frey mehrmals die Tränen. Seine Rückgabe bezeichnet er als bescheidene Geste der Wiedergutmachung.

Sein Vater habe oft in den Büchern geblättert, berichtet Frey, doch als nach seinem Tod die Mutter in eine kleinere Wohnung zog, kamen sie in die hintere Regalreihe. Nachdem auch sie 2002 gestorben war, suchte Frey nach einem Weg der Restitution. Doch das Auswärtige Amt, an das der frühere Bürgermeister von Neu-Isenburg sich wandte, wollte nicht aktiv werden ohne eine Gesamtlösung der Beutekunstfrage. Auch Akteure einer deutschen Städtepartnerschaft mit Woronesch zeigten kein Interesse. Schließlich führte ihn die Suche nach einem Vermittler zu Eichwede, der schon 2006 die Rückführung eines im Zweiten Weltkrieg aus der Woronescher Universität gestohlenen Buchs organisiert hatte.

Die Hochschule von Woronesch ist eine Forschungsuniversität, sie gehört zu den zehn besten des Landes, bildet zahlreiche ausländische Studenten aus und nimmt am Erasmus-Programm teil. Leider werden den Lehrenden – wie auch an anderen Universitäten – jedes Jahr die Gehälter gekürzt. Jendowitzki versichert aber, dass die Bücher baldmöglichst digitalisiert und der internationalen Forschung frei zugänglich sein werden. Vor dem Hintergrund der geopolitischen Konfrontation bezeuge die bürgerdiplomatische Initiative, so der Rektor, den Willen Russlands und Europas zu friedlicher Zusammenarbeit.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.8.2021 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung erschienen. / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Lesen Sie dazu auch: Sabine Adler: „Beutebücher kehren nach Russland zurück“, Deutschlandradio, 10.8.2021

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